Wie würde es uns gehen, wenn wir uns nicht unsicher fühlen müssten, gut genug für den anderen zu sein? Wenn wir mit 100%iger Wahrscheinlichkeit wüssten dass der andere nicht gehen wird? Ein Experiment.

Chaos und AngstWas, wenn man sich dem inneren Strudel an Ängsten und Sorgen bewusst nicht hingibt?

So ziemlich jeder Mensch trägt in sich seine jeweils eigenen Prämissen, gewissermaßen „Grundsätze“ seiner Selbst- und Weltsicht, die das was er erlebt filtern und an diese Erwartungshaltungen anpassen. Manche davon bringen uns Freude, andere sind einem zufriedenen Leben eher hinderlich, und so manche dieser Prämissen ist uns – wenn überhaupt – auch nur sehr nebulös bewusst.

Im Hinblick auf klassische Beziehungen findet sich bei mir unter anderem die Prämisse „Das kann nicht glücklich machen“ mit den (sichtbaren) Alternativen

  1. Einsamkeit,
  2. Leiden innerhalb einer klassischen Beziehungsform sowie
  3. das Finden einer völlig neuen Art des Miteinanders, das bessere Voraussetzungen für ein Gelingen schafft.

Letzteres führte über die letzten Jahre zu einer langen Reihe von Experimenten mit alternativen Beziehungsformen. Langfristig sind jedoch sowohl meine eigenen Experimente wie auch jene anderer Menschen die ich miterleben durfte immer wieder gescheitert. Nicht in jeder Hinsicht: viel wurde gelernt und es gab auch viele schöne Erlebnisse. Aber vollends befriedigend war das Ganze auch nicht, und es flossen immer wieder auch Tränen.

Nun, in einer neuen Beziehung, jeder mit seinen Prägungen und Prämissen, stehen wir wieder einmal vor der Aufgabe, ein Miteinander zu finden, das uns Freude bereitet. Und zunehmend kristallisiert sich heraus, dass viele unserer Vorerfahrungen womöglich von bisher nur nebulös sichtbaren Prämissen geprägt wurden.

Viele meiner bisherigen Experimente wollten Antworten auf die Frage finden, wie man mit einem Menschen den man liebt auf Dauer sein kann. Offene Beziehungen schienen der einfachere Ansatz zu sein, weil sie zumindest theoretisch von dem Druck befreien können, für den anderen perfekt sein zu müssen: Was der Andere nicht leisten kann oder will, kann an andere „ausgelagert“ werden. In der Praxis war die Prämisse, dass jemand dann dauerhaft mit jemandem anderen sein will, weil man selbst nicht gut genug sei, meist zu stark ausgeprägt, als dass das auf Dauer gut funktionieren würde. Wie es meine Freundin unlängst ausdrückte: „Da muss man dann schon so recht knapp vor der Erleuchtung sein. Vielleicht sind wir da wo noch nicht.“

Möglicherweise sind die Formen offener Beziehungen die ich in mir schon als Vision finden kann eben nicht die „einfache Lösung“ der ursprünglichen Prämisse, dass die Beziehungen wie ich sie sonst vorfand nicht funktionieren können, sondern vielmehr eine wenn auch vielleicht nicht unmögliche so doch eine sehr schwierig zu praktizierende Kunst.

Das natürliche Auf und Ab und das Problem der selbst-erschaffenen Trends

Gestern durfte ich von ihr einen denkwürdigen Satz hören: „Manchmal schaust du ganz schön zerknautscht – aber das wird eh wieder anders.“ Darin findet sich eine Art Grundweisheit aus dem Taoismus wieder, die mir seit vielen Jahren sehr vertraut ist: Alles vergeht, alles kommt wieder. Der Moment in dem ich jemandem in seine Augen schaue und mich so tief verbunden fühle wie noch nie in meinem Leben: Er wird vergehen. Ebenso wie der schreckliche Moment in dem ich das Gefühl habe jemand nicht mehr wiederzuerkennen, in dem ein Gesicht wie eine Fassade zu sein scheint. Auch jener wird vergehen. Gemeinsam bilden jene Momente und alle dazwischen so etwas wie ein stetiges Auf und Ab, ein Ein- und Ausatmen des Lebens selbst.

Und doch kann es passieren, dass man anfängt, so etwas wie Trends erkennen zu wollen. Was, wenn die Liebe langsam verblasst? Was, wenn es für uns unausweichlich scheint, dass es früher oder später so sein wird? Dann haben wir eine Erwartungshaltung in uns aufgebaut, die wir uns immer wieder bestätigen, anstatt gemeinsam im Jetzt das zu erschaffen was uns gut tut. Weil wir ein Ende fürchten, suchen wir nach seinen Anzeichen, vermeintlich um ihm zu entkommen, und kreieren aus unserer Angst die Erfahrung wieder und wieder: Entweder finde ich mich in einem leidenden/sterbendem Miteinander wieder – oder allein. Um der vermeintlichen Unausweichlichkeit zu entkommen, beschäftigen wir uns zudem ständig damit, ob das Miteinander (noch) gut für uns ist bzw. ob man selbst denn noch ertragbar für den anderen ist.

Womöglich ist dies gewissermaßen auch eine Art von „Randgruppenproblem“. Millionen, vielleicht Milliarden Menschen weltweit stellen sich und ihre Beziehung zum jeweils Anderen von vornherein womöglich gar nicht in Frage. Aber dann gibt es da auch eine gar nicht so geringe Anzahl an Menschen – tendenziell oft sehr „spürige“ Menschen – die das doch tun. Und sich dann so sehr daran gewöhnen können immer alles in Frage zu stellen, dass sie vor lauter in Frage stellen und vergangene Erfahrungen damit zu reflektieren bzw. zu diskutieren sich gar nicht mehr vorstellen können dass bzw. wie sich ein Miteinander auch (langfristig) gut anfühlen kann.

Ein radikales Experiment: Vertrauen

Weil es auch uns immer wieder so ging, kam mir gestern beim Bergwandern eine Idee, die ich anfangs für möglicherweise absurd hielt, aber auch meine Freundin hielt sie für interessant genug, sie auszuprobieren. Wenn die Prämisse die so viel Schmerz und Angst erzeugt jene ist, dass man früher oder später verlässt oder verlassen wird, weil man sich nicht gut genug für den anderen fühlt (oder bezweifelt dass der andere „die richtige Wahl“ ist), und alleine dadurch dass man immer wieder seine Unsicherheit durchleben und durchdiskutieren will sehr viel Zeit verstreicht die für andere Visionen fehlen – warum nicht mal als Experiment diese misstrauische Prämisse völlig auf den Kopf stellen und schauen was dann passiert? So entstand die Idee eines ergebnisoffenen Experiments:

Wir werden den ganzen Monat September beide bewusst gar nicht mehr in Frage stellen dass wir miteinander sein wollen, und so miteinander handeln/umgehen als wäre das das Selbstverständlichste auf der Welt für uns. Und dann nach dem Monat wollen wir uns anschauen was das Experiment für uns verändert hat. In einem Monat soll es dann einen weiteren Artikel zum Thema geben, in dem wir von unseren Erfahrungen dazu berichten. Dann entscheiden wir auch, ob wir das Experiment weiter fortführen wollen.

Womöglich möchtest auch du ausprobieren wie es dir geht, wenn du dich ganz bewusst dafür entscheidest, die Prämissen die für deine Ängste wegweisend sind auf den Kopf zu stellen und für eine Weile so zu leben als wären diese freudebringender. Wenn ja, freue ich mich, wenn du auch deine Erfahrungen mit uns teilst.

Niklas

Es war doch immer wieder erstaunlich. Eine Stunde mit einer Freundin telefoniert. Versucht, der Suchenden guten Rat zu geben. Nur um nach dem Auflegen verblüfft festzustellen, dass man – wieder einmal – im Grunde mit sich selbst gesprochen hatte.

„Eigentlich ist es doch total unsinnig, was man da macht“, hatte er zu ihr gemeint. „Also dass man sich einredet, erst dann wieder miteinander in Kontakt zu treten zu dürfen, wenn man seine Schwierigkeiten überwunden hat. Dabei wär es doch viel logischer andersrum. Dann in Kontakt zu treten, wenn man Unterstützung braucht. Wenn man sich das mal angewöhnt hat, und die Unterstützung dann auch bekommt, dann kann einen ja eigentlich kaum mehr etwas wirklich umwerfen. Weil man dann umso mehr gehalten wird, je fester der Gegenwind weht.“
Das klang so dermaßen einleuchtend, dass es seltsam schien, dass er es selbst ebenso selten lebte wie jene Freundin, der er gerade zu helfen versucht hatte. Warum nur?

Lange saß er nach jenem denkwürdigen Telefonat noch in der Hängematte, schaukelte still vor sich hin, wiegte sich selbst, in sich versunken. Dann klingelte sein Handy erneut. Eine andere alte Freundin war dran. Er kannte sie nun beinahe schon zehn Jahre lang, und sie hatten immer schon ein etwas.. zwiespältiges Verhältnis gehabt. So eine merkwürdige Mischung aus gegenseitiger Zuneigung und sich gegenseitig kaum auf Dauer aushalten. Und so hatten sie sich eben mit der Zeit daran gewöhnt, dass sich zwischen ihnen immer wieder aufs Neue innige Momente mit Momenten gegenseitiger Abstoßung abwechselten. Auf seltsame Art und Weise.. liebten sie sich auch, hatten sich immer geliebt und würden sich wohl immer lieben. Nur nie eine auch alltagstaugliche Form für diese Liebe gefunden, die auch ohne jene sich wiederholenden Muster von Anziehung/Abstoßung auskam.

Und nun sprachen sie über den jüngsten Vorfall, der ihn wieder einmal dazu gebracht hatte, für ein paar Tage auf Distanz zu ihr zu gehen. Sie war zu Besuch gewesen, sie hatten sich gut verstanden. Bis sich wieder einmal jener „Rucksacktourist“, wie er es für sich nannte, in ihre Kommunikation eingeschlichen hatte. Mittlerweile hatte sich das Muster oft genug wiederholt, dass er es nicht mehr über Gebühr fürchtete. Trotzdem war es jedes Mal aufs Neue im Moment des Auftretens verwirrend. Sie waren gemütlich auf der Terrasse gesessen, hatten ungezwungen geplaudert. Sie hatte ihm eine Frage gestellt, unverfänglich an der Oberfläche betrachtet. Und doch hatte er sofort gespürt, dass der Rucksacktourist sich wieder einmal bemerkbar machte.

Der Schlingel war schwer wahrzunehmen, aber mit den Jahren hatte er ein feines Gespür für jene Momente entwickelt. Es war der Moment, in dem sie – an der Oberfläche betrachtet – eine ergebnisoffene Frage stellte, aber nur eine Antwort zu akzeptieren bereit war. Früher, noch ungeübter, hatte er sich bisweilen überrumpeln lassen. Hatte jene eine Antwort gegeben, um den Konflikt zu vermeiden. War damit oftmals Verpflichtungen eingegangen, die er später bereute. Nur um früher oder später festzustellen, dass sie ihn – ohne es selbst zu merken – in jenem Fall ohnehin immer tiefer an und schließlich über seine Grenzen führen würde. Bis er wieder einmal jene Grenzen übergangen, ihr schlicht aus Überforderung nicht mehr die Antwort zu geben vermochte, die sie davor schützte, den Rucksacktouristen selbst wahrnehmen zu müssen.

Nun, aufmerksamer auf die Infiltration des Gesprächs durch den Rucksacktouristen, vertraute er mehr seiner instinktiven Reaktion, die dem Druck, die eine richtige Antwort zu geben, widerstand. An ihren Reaktionen war zu erkennen, dass er sie durch seine Weigerung, dem Druck des Rucksacktouristen nachzugeben, mit einem schwer zu greifenden Trauma zu konfrontieren drohte. Meist endete es jedoch damit, dass sie ihn mehr oder weniger wüst beschimpfte, was wohl als Vorstufe einer direkten Konfrontation mit dem in ihr wohnenden Rucksacktouristen zu deuten war. Besser Distanz herstellen zu demjenigen, der es wagte, den Spiegel zu stellen, in dessen Spiegelbild sie ihren Rucksacktouristen voll wahrnehmen könnte.

All das war in ihm als inneres Bild schon seit längerer Zeit herangewachsen, hatte er als gegeben akzeptiert gehabt. So war sie eben. War zwar bisweilen nervig, aber er liebte sie ja trotzdem irgendwie, und so oft kam es dann auch wieder nicht vor.

Aber nun war er mit einer unangenehmen Fragestellung konfrontiert: War wohl auch in ihm ein solcher Rucksacktourist zu finden, der ihn auf notwendige Entwicklungsprozesse hindeuten wollte, dem er aber ebenso über die Schaffung von Distanz aus dem Weg ging wie jene Freundin? War nicht dieses – objektiv betrachtet – absurde Grundmuster, in der eigenen Herausforderung auf Distanz zu Menschen zu gehen, die ihm hilfreich hätten sein können, ein verdächtig ähnliches? Was würde wohl geschehen, wenn er das Grundmuster umkehrte? Sich ohne Scham Unterstützung holte, wenn er sie auch brauchte?

In den letzten Monaten hatte er erste Ansätze dieser „Kontinentalverschiebung“ seiner Herangehensweise umsetzen können. Zumindest da, wo er rechtzeitig reagiert hatte, und noch nicht im Sumpf seiner Überforderung versunken war. Und dabei Erfahrungen gemacht, die gleichzeitig verstörend wie Hoffnung weckend waren: viele Menschen fühlten sich geehrt, wirkten froh, helfen zu können. Interpretierten es nicht als Belastung, wie er allzu oft angenommen, sondern als Ausdruck von Liebe und Vertrauen zueinander.

Ein Stück weit war es die letzten Jahre über zu einer Art von Alleinstellungsmerkmal von ihm geworden, dass tendenziell er es war, der anderen half, und nur dann um Unterstützung bat, wenn es um Alltägliches ging. War er wirklich betroffen, vom Leben niedergeworfen worden, so hatte er sich üblicherweise zurückgezogen. Bis er – gestärkt und bewehrt mit einer erzählenswerten Geschichte – sich wieder „annehmbar“ genug für Kontakt fühlte. Wie passend das Wort “Alleinstellungsmerkmal” doch aus dieser Betrachtungsweise schien – fabrizierte er ja im Grunde seine eigene Einsamkeit und seine eigene Überforderung dadurch mit.

Nachdem er aufgelegt hatte, hatte er seinen Mantel genommen, die Haustür hinter sich geschlossen und war Tanzen gegangen. Immer noch erfahrungsgemäß eine der besten Möglichkeiten, ins Tun, ins Verändern zu kommen. Hatte eine Freundin dort getroffen, die sich neben ihn setzte, ihn umarmte, lange einfach nur neben ihm saß. Irgendwann hatte er dann ihre Hand genommen, mit einem hoffnungsvollen „I brauch des heute irgendwie“, und sie hatte ihn freundlich angelächelt, seine Hand gehalten, ihn gehalten, ihm Halt gegeben. Erstaunlich, wie einfach das war, wenn man endlich mal den Mut fand, einfach darum zu bitten. Sich zumindest für Momente mal von der Vorgabe verabschiedete, man müsse makellos sein, um geliebt, um gehalten werden zu können. Und wie logisch eigentlich: war es denn nicht viel einfacher, Halt zu finden und zu geben, wenn man sich auch an der Oberfläche, dort, wo andere es sehen mochten, Makel, eine gewissermaßen “rauere Oberfläche” erlaubte?

Und im Grunde hatte er sie ziemlich satt. All die Makellosigkeiten, all die Alleinstellungsmerkmale, die die Menschen voneinander trennten. Warum sich nicht zur Abwechslung mal unmittelbar begegnen, und nicht nur dann, wenn man peinlich genau darauf geachtet hatte, dass nur die „guten“ Emotionen und Geschichten ausgetauscht werden würden, weil der Rest tief genug in dunklen Hinterzimmern des Herzens vergraben war? Auch mal ganz offiziell verdammt verzweifelt sein dürfen, wenn man sich ja ohnehin schon so fühlte. Warum also nicht anderen die Chance geben, hilfreich sein zu können und so Beziehungen zu vertiefen? Die Alleinstellungsmerkmale, die das Leben oft so unglaublich schwer zu bewältigen machten, aufzugeben, um zu einem Wir zu finden, das sich aus der Anerkennung und Wertschätzung des jeweils Besonderen und des daraus denkbaren Potentials speiste.

Aus abnormal und abnormal mochte kein normal werden, das den Ansprüchen einer Perfektion erwartenden Gesellschaft genügte. Aber ein „wunderbar“ war womöglich durchaus in Reichweite für denjenigen, der den Mut aufbrachte, der Welt auch mal ohne Scham eine gerade leere Hand zu reichen, um die Fülle zu empfangen, die diese Welt gerne zu schenken bereit war.

Aber offen darum zu bitten, sich zu trauen, die eigene Unzulänglichkeit auch sichtbar zu tragen..
Eines Tages. Vielleicht.

Hallo, kleine Pflanze, die du da so unverschämt aus der Ritze lachst.
Hast du dich, als Same noch, gefragt, wo du wohl landen wirst auf deiner Reise? Ob du Raum haben wirst, dich zu entfalten, ob die Nährstoffe reichen werden, die Versorgung mit dem lebenswichtigen Wasser?
Oder hast du, todesmutig, es einfach darauf ankommen lassen? Hast dich der Welt anvertraut, in dem Glauben, der Hoffnung, dass es gut sei, wie es eben sei?
Da sind kleine Wassertröpfchen auf dir, kleine Pflanze, die glitzern in der schwächer werdenden Herbstsonne. Nascht du von ihrem kühlenden Nass, wie es dir am besten bekommt, oder rationierst du deinen kostbaren Besitz bis zum nächsten Regenschauer?
Da sind sanfte Winde, in denen du dich wiegst, als wäre dir deine Position im Leben relativ egal, solange du nur fest verwurzelt bist.
Deine Farben entsprechen so gar nicht jenen deiner Brüder rund um dich, doch das scheint dich nicht groß zu kümmern. Du wächst in der Nische, die du dir gefunden hast. Und dort, am Kreuzungspunkt, an dem du dich befindest, bist du Königin.

Weißt du denn, dass wir Menschen die Angewohnheit haben, Emporkömmlinge wie dich nicht allzu lange zwischen der strengen Ordnung unserer Bauten zu dulden? Dass deine bloße Existenz von vielen von uns als Störung dieser uns so heiligen Ordnung wahrgenommen, kaum ertragen werden kann? Dass schon dadurch, nicht nur durch die Tatsache des herannahenden Winters, deine Tage gezählt sein werden, auch wenn ich selbst deine erhabene Schönheit anerkenne?
Weißt du, dass du sterben wirst, und dass deine Entscheidungen jenen Zeitpunkt beeinflussen könnten? Kümmert es dich? Und falls nein, kannst du mich lehren, mir ebenso wenig darum Gedanken zu machen?

Denn einst war ich jung, dir ähnlich, meiner Intuition folgend König meiner eigenen Nische. Dann wurde ich entwurzelt, umgepflanzt. In eine Umgebung, die mich lehrte, aus der Vergangenheit mögliche Zukunft abzuleiten, um zu überleben. Ich überlebte, aber etwas Wichtiges ging mir verloren. Nun, selbst unter anderen, freundlicheren Bedingungen, finde ich nicht mehr zurück in mein kindliches Urvertrauen. Muss, wie ich nach einigen gescheiterten Versuchen des Zurückkehrens anerkennen lernte, voranschreiten statt zurückschauen. Nun, verändert, wieder neu vertrauen lernen, mit jeder möglichen Zukunft umgehen zu können, statt aus Erfahrung zu wissen, was die Zukunft bringen wird, und versuchen, sie in meinem Sinne zu beeinflussen.

Ich bin wenig bewandert in Pflanzenkunde, aber es sieht so aus, als ob du kaum je größer als ein kleines Buch werden wirst. Und doch strahlst du jene sonderbare Größe aus, die diejenigen zu umgeben pflegt, die in dem ihren Raum Erfüllung finden.

Nun ist ein Marienkäfer herangeflogen, und hat es sich an der Wand gemütlich gemacht. Er gehört uns nicht, und doch gehört er irgendwie zu uns, nun, da wir ihn entdeckt, anerkannt haben. Er wird nicht bleiben, die Begegnung wird flüchtig sein, und doch hat seine Anwesenheit mich im Jetzt berührt. Mich näher an den Ursprung zurückgebracht, von dem ich mich oft schon zu weit entfernt glaubte, um zurückkehren zu können. Hier, mit meinem Körper, habe ich ihn entdeckt. Jetzt, in diesem Moment, ist er hier, und ich mit ihm, bin mit ihm in einer kurzen, flüchtigen Beziehung.

Es wird schwieriger, diese Beziehungen herzustellen und aufrechtzuerhalten, je älter und damit gewissermaßen auch vermeintlich „wissender“ ich werde. Je mehr ich glaube zu wissen, desto schwieriger wird es, sich auf die Unbestimmtheit einzulassen, die authentisch neue Erfahrung gebiert. Man will ja immer alles schon gewusst haben. Schließlich ist man ja nun erwachsen. Da ist es ein bisschen peinlich, sich auf etwas einzulassen, dessen Ausgang man nicht vorhersehen kann. Man könnte sich ja zum Affen machen dabei. Hat sowas wie einen Ruf zu verlieren.

Ja, kleine Pflanze, du hast durchaus Recht: ich rede hier völligen Schwachsinn. Leider ist dieser Schwachsinn durchaus real, und wird gewissermaßen von uns erwartet. Hier bei uns Menschen wird man gefeiert und bewundert, wenn man immer die Kontrolle behält. Wer sich in unkontrollierte, unvorhersehbare Situationen begibt, der handelt dann „unverantwortlich“. Natürlich, wenn man alles gut übersteht, hat man danach gute Geschichten zu erzählen, dann wird man auch wieder bewundert, und hat plötzlich wieder ziemlich viele Freunde. Aber der Weg dorthin ist ein einsamer. Und wir Menschen, wir ertragen die Einsamkeit nicht sehr lange.

Du kannst uns eine reinhauen, du kannst uns hungern lassen, wir mögen vieles nicht. Aber was wir auf Dauer überhaupt nicht vertragen, ist die Einsamkeit. Mir machen die absurdesten Dinge, nur um uns nicht einsam fühlen zu müssen. Und weil sich das eben so durchgesetzt hat hier bei uns, versuchen die meisten von uns dann auch noch, andere dazu zu bringen, sich mit uns zu beschäftigen. Weil wir diese absurde Angst haben, dass die es niemals von sich aus tun würden, so dass wir sie eben „fremdsteuern“ müssen. Wir haben sogar Verträge erfunden dafür! Obwohl man glauben könnte, wenn ich dich, kleine Pflanze, einfach durch dein Da-Sein als wundervoll und wertvoll empfinden kann, sollten wir Menschen es doch auch bei anderen Menschen zusammenbringen.

Tatsächlich können wir das auch ganz gut, zumindest einige von uns. Aber dann haben wir doch Angst, dass es vielleicht nur im Moment so ist, und was ist dann mit morgen? Da brauchen wir ja auch Liebe und Anerkennung! Darum lieber vorsorgen, schauen, wie wir sicherstellen können, dass es auch morgen so weitergehen wird. „Glücklich bis zum Ende aller Tage“ nennen wir das dann. Ja, natürlich ist das in etwa so unsinnig, wie sich ein ganzes Jahr lang nur Sonnenschein oder nur Regen zu wünschen, das ist weder wachstumsfördernd noch besonders interessant. Aber wir machen das trotzdem so. Ich habs ja auch probiert. Wenn es alle machen, hab ich mir gedacht: wär ja seltsam, wenn das nicht zumindest ein bisschen sinnvoll wär. Können ja nicht alle deppert sein.

Nur leider, kleine Pflanze, war ich dadurch nur noch ziemlich selten „da“. Ich war ständig irgendwo in der Vergangenheit, um zu lernen, die Zukunft besser einschätzen und damit steuern zu können. In der Zukunft, um da entsprechend die Fäden zu ziehen. Oder im Geiste irgendwo, wo ich mal war oder noch hinkommen wollte. „Da“, also im Hier und Jetzt, war ich mit der Zeit immer seltener. Das fiel mir  nicht einmal groß auf, weil auch alle anderen kaum je „da“ waren. Das war nicht nur „normal“, das war sogar gewissermaßen angesehen, ein untrügliches Zeichen für Wichtigkeit. Und da Ansehen, Gesehen werden und geliebt werden sich schon ein bisschen ähnlich anfühlen, erschien es für eine Weile durchaus sinnvoll, da mitzumachen.

Tja, kleine Pflanze, und nun sitze ich da vor dir, und denk mir, das ist eine der schönsten Begegnungen der letzten Monate. Hab dich ja schon öfter gesehen und mir gedacht, dass du irgendwie etwas Besonderes bist. Aber wer selten „da“ ist, hat auch kaum je Zeit dafür, jemanden wie dich kennenzulernen. Der muss dann eben auch nehmen, was kommt und in dem engen Zeitkorsett, das übrig bleibt, Platz findet. Was sich auch langfristig gut in den Zeitplan einordnen lässt. Was nicht passt, wird entweder passend gemacht, oder eben verworfen. Langfristig denken, sich etwas aufbauen und so, du weißt schon. Oder vielleicht auch nicht? Vielleicht ist das dein Geheimnis?

Gestern, kleine Pflanze, hatte ich einen seltsamen Traum. Ich war Beisitzer bei einer politischen Besprechung, und plötzlich meinte einer der eigentlichen Akteure, er wolle mit mir Platz tauschen. Ich sei geeigneter als er, in dieser Position zu sein. Anfangs zögerte ich: wer war ich schon, reale Macht auszuüben, was waren meine Ansichten schon wert? Aber selbst die Politiker der anderen Fraktionen ermunterten mich. Mit mir würden sie gerne zusammenarbeiten wollen. Also setzte ich mich auf den mir angebotenen Platz. Und mit einem Mal konnte ich fühlen, wie richtig es war, auf jenem Platz angekommen zu sein. Hier war der Raum, den auszufüllen mir bestimmt war. Als ich nach dem Aufwachen einer Freundin davon erzählte, meinte sie, ich würde nun endlich aufhören, im Publikum meines eigenen Lebens zu sitzen, und lernen, mich selbst ins rechte Licht zu rücken.

Was würde ich ändern wollen, nun, da ich symbolisch „an die Macht gekommen war“? Nun, vielleicht würde ich die fatale Idee hinterfragen und ein bisschen aufweichen wollen, dass man die Zukunft aus der Vergangenheit abzuleiten vermochte. Ein bisschen mehr Spielraum gewähren, Entscheidungen ergebnisoffen zu treffen, selbst wenn sich diese im Nachhinein als Fehler herausstellen sollten. Die Zeit schenken, dieses Nachhinein auch abwarten zu können, bevor der Begriff „Fehler“ überhaupt verwendet wird. Und die Entscheidung darüber, was richtig und was falsch gewesen sei, dort, wo es nicht anderweitig zwingend notwendig ist, bei den jeweils Betroffenen zu belassen, anstatt aus allem einen Staatsakt zu machen.

Wäre das eine Welt, in der du gerne leben würdest, kleine Pflanze? Ich vermute, dir wird die Welt der Menschen ein Stück weit egal sein. Du bist besser darin als wir, einfach drauf los zu leben und die Konsequenzen deiner Handlungen stillschweigend zu ertragen. Aber vielleicht… und nur vielleicht… würdest du dann hier in deiner Ritze auch länger weiterleben dürfen und nicht ausgerupft werden. Denn auch wenn du die Ordnung der Fliesen auf dieser Terrasse stören magst, und schon gar nicht eingeplant warst, als diese Terrasse gebaut wurde:

So, wie du bist, bist du wunderschön.

Im hier.
Im Jetzt angekommen.
Kann ich endlich wieder fühlen:
Ich bin es auch.

Du sagst, du magst mich
Ich dich auch
Ich bau mir eine Welt
In der wir lieben könnten
Du baust dir deine Welt
In der wir lieben könnten
Und so verfehlen wir uns
Wieder mal um Welten

Ich freu mich auf dich, sagst du
Und ich, ich kann dich kaum erwarten
Mein  Raum ist aller Welt
Wegen Umbau nun geschlossen
Drin sitz ich, wartend, mit Geduld
Auf dich, die nur in Freilufthallen tanzt
Du tanzt und suchst, und findest mich
Schon zu lange im Saft meiner Erwartungen schmorend

Du kamst nicht eher, werfe ich dir vor
Bewirf dich mit Beweisen
Du weichst mir aus, gehst auf Distanz
Wer bin ich, dich zu richten?
Ich sprech dir von Verlässlichkeit
und meine doch: Ich habe Angst
Nicht wichtig dir zu sein
Ein Blatt im Wind
Nicht wert dir
Dran zu denken

Doch weil ich dies nicht sagen kann
Bewehr ich mich mit Gründen
Warum berechtigt meine Wut
Berechtigt mein Empfinden
Du sagst mir, sorry, tut mir Leid
Und schaust mich überfordert an
Ich wollt dich nicht verletzen
Und schon ist es passiert

Dann geh ich, irgendwann, enttäuscht
Verletzt, verschwiegen, aufgerieben
Verlass den Raum der Möglichkeiten
Zieh mich zurück in Einsamkeit
Ich wollt, ich hätt dir folgen können
In deine tiefsten Schluchten
Blockiert durch meinen eignen Schmerz
Hab ich Kontakt verloren

Und dann, aus unerwartet Quelle
Kommt guter Rat: nun akzeptier
Du bist verliebt, komm, sieh es ein
Dein Gegner scheint nur sie zu sein
Ist doch in Wahrheit alter Schmerz
Der quält und schließt hier zu dein Herz
Willst du nicht öffnen dich der Liebe
Was kämpfst du Stellvertreter-Kriege?

Du sagst, du magst mich; Ich dich auch
Ich hasse diese Wortwahl
Die der Liebe größter Feind, die Angst
Mit Gusto mir diktiert
Dann projizier ich meine Wut darüber
Auf die, die Liebe lässt mich fühlen
Red‘ große Worte in Ermangelung von Taten
Und schweig, wo Schweigen Narben hinterlässt

Ich liebe dich, jetzt hab ich mich getraut
Kann sein, du wirst noch länger brauchen
Hab meine Brücke dir gebaut
Bei deinem Namen dich gerufen
Sei mir willkommen, auf Besuch
In neuen Freiluft-Hallen
Tanz mir den Tanz der in dir tanzt
Er hat mir so gefallen

Und wenn du dann bereit dich fühlst
Dann öffnen wir die Dämme
In uns, um uns, tränken unsere Welten
Ach, wenn es doch gelänge!
Die Dämme warn mal notwendig
Wir konnten noch nicht schwimmen
Haben wir uns nun genug geübt
Der Angst zu entrinnen?

Lass uns hoffen, dass es reicht
Komm, wir gehen schwimmen

Gestern hielt ich im FreiRaumWels einen meiner Vorträge, „Führen zur Selbstverantwortung“. In einem Teil des Vortrages spreche ich auch über das „Lustige Fehlersuchen“, das ich vor einigen Jahren mal in einer VS-Klasse erfunden hatte, um den Schülern die Angst vor dem Fehlermachen zu nehmen. Wie so oft, kam mir dann, während ich darüber sprach, eine simple, aber doch sehr mächtige Erkenntnis über die Natur des Fehlers. Abends sah ich mir dann noch eine Dokumentation über das Leben des Buddhas an, und plötzlich passten viele Puzzle-Teile perfekt aufeinander. Die Erkenntnis will ich euch natürlich nicht vorenthalten…

Die relative Natur des Fehlers

Bevor er zum „ausgewachsenen“ Fehler wird, durchläuft er – bildlich gesprochen – mehrere Entwicklungsstufen. Er beginnt als Intention. Jemand hat die Absicht, etwas zu erreichen. Der nächste Schritt ist die Auswahl der vermutlich geeignetsten Handlungsweise. Diese muss nicht notwendigerweise bewusst stattfinden, sie kann beispielsweise auch aus Gewohnheit entstehen. Danach erfolgt die Umsetzung der Handlung, und schlussendlich die Bewertung der Konsequenzen nach den Kriterien der Intention. Habe ich mein Ziel erreicht? Gibt es eine Abweichung vom Ziel, und wenn ja, wie ausgeprägt ist diese Abweichung? Daraus ergibt sich, ob ich „richtig“ gehandelt habe, oder aber auch, wie dramatisch mein Fehler (meine Abweichung vom Ziel) war.

Im Alltag wird wohl kaum jegliche Intention und Handlung dermaßen genau durchdacht werden, stattdessen wird wohl viel unbewusst ablaufen. Diese sehr genaue Betrachtungsweise ermöglicht jedoch einige interessante Beobachtungen und Überlegungen über die Natur des Fehlers.

  1. Die Möglichkeit, einen „Fehler“ zu machen, entsteht erst durch die Beurteilung des Endergebnisses nach bestimmten Kriterien. Ohne diese (nicht notwendigerweise rationalen) Beurteilungskriterien würde es uns unmöglich sein, Fehler als solche überhaupt zu erkennen. Unsere Welt wäre gewissermaßen „Fehler-los“.
  2. Wir können Beurteilungskriterien vor, während oder/und nach der Handlung anwenden, und werden möglicherweise zu verschiedenen Bewertungen gelangen. Es könnte beispielsweise sein, dass wir während einer Handlung zur Bewertung „falsch“ kommen und daraufhin die Handlung abbrechen, obwohl das Endergebnis durchaus positiv für uns gewesen wäre.
  3. Unterschiedliche Menschen können unterschiedliche Bewertungskriterien für die gleichen Intentionen annehmen.
  4. Unterschiedliche Menschen können selbst bei übereinstimmenden Bewertungskriterien zu unterschiedlichen Bewertungen gelangen.
  5. Dies führt zur Frage: welchen Menschen übertragen wir die Macht über unser Handeln zu, zu bewerten, was ein „Fehler“ ist und was nicht? Warum genau diesen Menschen? Und warum tun wir das überhaupt?

All diese Überlegungen zeigen uns eines auf: Fehler sind etwas Relatives. Selbst die exakt gleiche Handlung zur Erreichung der exakt gleichen Intention mag von unterschiedlichen Menschen unterschiedlich als korrekt, als Fehler oder auch als große Innovation interpretiert werden.

Abweichung: Die gemeinsame Voraussetzung von Fehler und Innovation

Ein Fehler und eine Innovation sind in ihrem “Embryo-Stadium” noch kaum zu unterscheiden: beide stellen lediglich eine Abweichung von der erwarteten oder sonst üblichen Handlungsweise dar. Dazu ein sehr simples Beispiel aus der Welt der Sprache: meine Ex-Freundin schreibt – ebenso wie ich – sehr gerne, und sie hat ein Talent dafür, Wörter zu erfinden, die es „nicht gibt“, aber sich beim Lesen trotzdem stimmig anfühlen. Eines meiner Lieblingswörter, die sie erfunden hat, ist „Angefühl“, z.B. verwendet für „im Angefühl der Trennung“. Als strenger Lehrer, mit dem Wörterbuch als Kriterium an der Hand, mag man das Wort nun ähnlich rot markieren wie mein Schreibprogramm das gerade gemacht hat – für mich hingegen ist es eine wunderschöne neue Wortschöpfung, eine Innovation. Wer aber entscheidet jetzt darüber, ob aus einer Abweichung ein Fehler oder eine Innovation wird?

Suchen wir nach einer Antwort auf diese Frage, kommen wir kaum um die Frage nach Machtverhältnissen herum. Derjenige, von dessen Wohlwollen/Unterstützung ich abhängig bin, hat eine gewisse Macht, meine Handlungen in richtig/Falsch einzuteilen.

Das Interessante daran ist, dass diese Macht nicht aktiv ausgeübt werden muss, indem mir jemand ständig sagt, was ich nicht schon wieder falsch gemacht habe. Es reicht, wenn ich vermute, dass jemand, von dessen Unterstützung ich abhängig bin, mein Verhalten als fehlerhaft ansehen wird. Es entsteht gewissermaßen eine Art Internalisierung der Bewertung des anderen, die dann irgendwann unabhängig von den tatsächlichen Bewertungen des Anderen in mir abläuft. Die Relativität des Fehlers geht verloren, er wird zu einem absoluten Fehler.

In der Folge passiert noch etwas sehr Interessantes: der Zeitpunkt der Bewertung verschiebt sich nach vorne. Habe ich ursprünglich noch ergebnisoffen gehandelt, und ist mein Handeln danach als fehlerhaft (oder auch nicht) bewertet worden, so findet dieser (interne) Bewertungsprozess nun zunehmend bereits während der Handlung, und irgendwann auch schon vor der Handlung statt. Um das Risiko zu minimieren, negative Konsequenzen durch denjenigen erleben zu müssen, von dessen Unterstützung man abhängig ist, wird irgendwann jede Abweichung vom erfahrungsgemäß „richtigen“ (= keine negativen oder sogar positive Konsequenzen) Verhalten vermieden. Eine absolute innere Blockade wurde geboren: “Das ist nun mal einfach so.”

Innovation und Schaumamoi

In den im Nachhinein betrachtet bisher schönsten Jahren meines Lebens (auf deren Lebenseinstellung ich mich – hoffentlich – nun langsam wieder hinbewege) dominierte eine Grundformel meinen Alltag: „Schau ma moi, wos passiert“, also gewissermaßen eine radikale Neugier, die sich jeglicher Vor-Bewertung möglicher Folgen entzog. Nicht alle Konsequenzen meiner Handlungen waren positiv, manche waren durchaus auch negativ, aber selten in meinem Leben fühlte ich mich einerseits derart frei und andererseits derart glücklich.

Was ich meinen Schülern später über das „Lustige Fehlersuchen“ beibrachte, praktizierte ich damals tagtäglich selbst: ich tat, was sich richtig anfühlte, und sah mir am Ende – nicht ohne eine gewisse Neugier – an, was dabei rauskam. Oft kam ohnehin viel Gutes dabei raus, und wenn etwas nicht ideal gelaufen war, war das Ergebnis oft Grund zur Heiterkeit und Basis zahlreicher humorvoller Geschichten, die man miteinander teilen konnte.

Dieses Schaumamoi war möglicherweise der größte Schatz, den ich jemals besessen hatte. Jahre später, nach eingehender Beschäftigung mit allen möglichen religiösen Texten und vor allem auch östlicher Philosophie, finde ich ziemlich viel davon in buddhistischen Texten wieder, die von einem Loslassen der Anhaftung an gewünschte Folgen des eigenen Tuns sprechen. Sie sprechen nicht darüber, nichts mehr wollen zu dürfen, sondern darüber, sich von der Notwendigkeit zu lösen, dass dieses Wollen exakt so wie gewollt Realität wird. Gewissermaßen ein Handeln mit einem Schaumamoi, und am Ende einem wertneutralen Herausfinden, was denn nun tatsächlich geschehen ist. Nicht ein Ende des Tuns, sondern eine Reduzierung der Wichtigkeit der erwünschten Konsequenzen des Tuns. Was sich praktischerweise auch gut deckt mit den Lehren des Taoismus, mit denen ich mich oft sehr gut identifizieren kann.

Die Illusion der Beständigkeit

Ein Aspekt aus der östlichen Philosophie (woher exakt ich den nun habe ist mir entfallen, aber das Woher für mich auch irrelevant, solange das Was Sinn ergibt), der mir besonders gefällt, ist die Erkenntnis, dass alles gleichzeitig ewig und vergänglich ist. Es wird möglicherweise immer (oder zumindest noch für lange Zeit) Jahreszeiten geben, aber dieser Sommer für sich ist einzigartig, und dem Kreislauf von Entstehen/Vergehen unterworfen. In unserer Wahrnehmung wird es noch viele Montage geben, gewissermaßen ist “der Montag” als Konzept damit „ewig“, aber jeder Montag für sich ist einzigartig. Ich werde in meinem Leben wohl noch viele Menschen kennenlernen, und der Kontakt mit Menschen ist gewissermaßen ewig, weil immer wiederkehrend, aber die einzelnen Menschen und die einzelnen Begegnungen und Momente mit ihnen sind einzigartig. Damit ist gleichzeitig jeder Moment unendlich wertvoll, und ein möglicher Neuanfang, aber auch jeglichem Druck, etwas ganz Großes aus ihm zu machen, enthoben: er ist auch ewig, wiederkehrend. Ihn „verschwendet“ zu haben (der Bezug zum „Fehler“ mag hier auffallen) hat keine große Relevanz, weil er (in anderer Form) wiederkehren wird.

Es gibt damit unabhängig von der Situation, in der ich mich befinde, keinen Grund zur Hoffnungslosigkeit, weil jeder Moment die Chance eines radikalen (“radix” = Wurzel) Neuanfangs in sich birgt. Ich kann in jedem Moment einfach aufstehen, aus dem Haus gehen, und ein völlig neues Leben beginnen – wenn ich bereit bin, die Konsequenzen zu ertragen. Meine Anhaftungen (=Fixierung auf erwünschte Konsequenzen meiner Handlungen) sind somit meine einzigen realen Blockaden meiner absoluten Freiheit.

Ein Schlüssel zur Überwindung der Angst vor dem Fehler

In Bezug auf unser Thema des Fehlers ist das Durchschauen dieser Illusion der Beständigkeit ein möglicher Schlüssel zur Überwindung der Angst vor dem Fehler. Denn eine Vor-Bewertung oder Während-Bewertung einer Handlung macht nur dann Sinn, wenn wir das Endergebnis verlässlich vorhersagen können. Wäre die Welt beständig und keinem Wandel unterworfen, so würde eine solche Vorhersage tatsächlich immer Nutzen bringen, weil wir damit die Welt und ihre Wirkungsgesetze zunehmend besser verstehen könnten.

Da sich die Welt trotz ihres ewigen Aspekts aber auch stets im Wandel befindet, ist eine Vor- oder Während-Beurteilung eine Verkennung der Realität, eine gewissermaßen selbst auferlegte Machtlosigkeit. Wir gehen davon aus, dass unser Verhalten, oft genug als „Fehler“ rückgemeldet, gewissermaßen „absolut“ ein Fehler sein muss, und versuchen dann, diese Fehler von vornherein zu vermeiden, um damit die Konsequenzen, die wir fürchten, zu vermeiden – bis wir uns irgendwann möglicherweise kaum mehr erinnern können, wie wir überhaupt zu dem Schluss gekommen sind, dass ein Verhalten „falsch“ sein müsse.

Das Problem dabei ist (neben vielen anderen), dass Fehler, wie eingangs erwähnt, im Grunde immer nur relativ, nur situativ als solche bewertet werden können. Was unsere Eltern uns, als wir Kinder waren, als „falsch“ eingetrichtert haben, mag für damals durchaus hilfreich und sinnvoll gewesen sein, aber ist es das nun als Erwachsener immer noch? Oder vielleicht war es auch damals schon nicht konstruktiv, aber wir waren als Kinder eben zu abhängig von den Eltern, um widersprechen zu können – aber sind wir das immer noch?

Das Gefängnis der Erwartungen

Vermutlich haben wir uns alle im Laufe unseres Lebens ein gewisses Maß an Erwartungshaltungen von richtig/falsch angeeignet, die von unseren Abhängigkeitsverhältnissen geprägt sind. Das ist nicht zwingend etwas Negatives, war wohl oft auch notwendige Überlebens-Strategie

Dort jedoch, wo wir zu erahnen beginnen, dass wir uns dadurch selbst blockieren, mag die Frage sinnvoll sein, wer im Bereich dieser Blockaden die Hoheit über die Bewertung besitzt: wir selbst, die wir uns durchaus auch bewusst für ein Schaumamoi entscheiden können, um herauszufinden, welche Handlungen sich für uns stimmig anfühlen? Oder vielmehr jemand, von dem wir glauben, abhängig zu sein, und von dem wir glauben, dass er bestimmte Verhaltensweisen wünscht oder ablehnt? Im letzteren Fall steht uns – zumindest als Erwachsenen – die Möglichkeit offen, mit den betroffenen Personen offen über ihre tatsächlichen Bedürfnisse zu kommunizieren, anstatt unseren Verhaltens-Spielraum möglicherweise unnötigerweise weiter basierend auf Annahmen einzuschränken. Oft haben sich diese im Laufe der Zeit verändert, oder wir haben sie von vornherein nicht treffend interpretiert. Oder aber die (erlebte) Abhängigkeit von den betroffenen Personen kann reduziert werden, etwa indem man sich einen neuen/zusätzlichen Arbeitgeber sucht, oder weitere Freunde kennenlernt, um die Abhängigkeit von den Meinungen des besten Freundes zu reduzieren. Vielleicht auch einen Konflikt wagt, und feststellt, dass sich die Machtverhältnisse mit der Zeit verändert haben.

Diese Überlegungen erinnern mich ein bisschen an ein sehr schönes Bild, das mein Tai Chi Lehrer René oft benutzt hat. Er ließ sich von einem Freiwilligen an den Handgelenkten fassen, und zeigte, wie verkrampft jemand dabei werden konnte, weil er glaubte, nun „gefangen“ zu sein. Entspannte er seinen Körper, so konnte er wunderbar vorzeigen, so war er im Grunde überhaupt nicht gefangen, konnte sich immer noch sehr frei umherbewegen, oder je nach Wunsch auch denjenigen, der ihn an den Handgelenken packte, gerade aufgrund der dadurch entstandenen Verbindung seinerseits kontrollieren. Die Verkrampfung in solch einer Situation ist eine automatische Reflexhandlung, die uns das Gefühl gibt, unfrei zu sein. Bewusstes Entspannen und Zulassen können zeigt auf, welche Freiheiten wir eigentlich trotz aller angeblichen “Einschränkungen” haben.

Da unsere Erwartungen, unsere – ähnlich reflexartige – Angewohnheit, Bewertungen schon vor oder während einer Handlung vorzunehmen, um negative Konsequenzen seitens denen, von denen wir uns abhängig glauben, zu vermeiden, gewissermaßen „in uns“ stattfindet, können wir sie auch aktiv beeinflussen. Mein „Meditationswort“ dafür ist dieses irgendwann entstandene „Schau ma moi, wos passiert“, aber im Grunde braucht es das nicht – ich finde es nur lustig (Humor hilft definitiv!), und es versetzt mich recht zuverlässig zurück in jene Zeit, in der ich diese Praxis ganz natürlich sehr meisterhaft beherrscht habe.

Warum ich sie überhaupt ein Stück weit verlernt habe? Nun, der Einstieg ins „echte“ Berufsleben war sicher ein Faktor. Vielleicht musste ich sie auch erst verlernen, dann mühsam neu erlernen, um sie auch anderen vermitteln zu können, die nicht diese natürlich entstandene Vorerfahrung mitbringen, wer weiß?

Niklas

P.S.: Einige Ankündigungen, genaueres dazu gibts wie gewohnt unter Vorträge/Workshops

  • Nächste Woche Montags, 19:00, gibt’s im FreiRaumWels den dritten Vortrag meiner kleinen Vortragsreihe. Diesmal geht’s um Familien- und Rechts-Systeme: systemische Ursachen der Entstehung von Mobbing und totalitären Systemen (die sich interessanterweise sehr ähneln), und auch, was das für unsere aktuelle politisch-gesellschaftliche Situation in Österreich bedeuten mag.
  • Das Konzept dazu steht noch nicht ganz konkret, aber ich werde wohl in Wels eine Art “Filiale” vom Tai Chi Kurs meines Lehrers René aufbauen, nachdem mir einige rückgemeldet haben, sie hätten Interesse, wollen aber nicht nach Braunau fahren deswegen. Hab mir mal gesagt, bei 3 Interessenten würd ich das machen, 2 haben sich schon gemeldet. Wir wohl kein reiner Tai Chi-Kurs werden, sondern ähnlich wie bei René’s Kurs auch viele Aspekte wie Auflösung von Blockaden, Entspannung, Philosophie dahinter etc. werden. Genauere Infos folgen wie gewöhnt unter Vorträge/Workshops, bei grundsätzlichem Interesse wär eine Vormerkung bei mir sinnvoll, dann kann ich das besser planen, bzw. vielleicht auch mögliche Termine so abstimmen, dass möglichst viele Interessenten Zeit dafür finden können.
  • Unsere ResonanzWörter-Übungsgruppe Öffentliches Sprechen jeweils Sonntags, 18:00 im FreiRaumWels wird langsam eine beständigere Gruppe, jetzt waren wir schon 2x zu viert, das zählt dann schon fast als „Öffentlichkeit“. Wer Lust hat mal vorbeizuschauen, sehr gerne, ist auch echt immer sehr spaßig gewesen bisher. Da das Zusammentreffen ausfällt, falls nicht genug Besucher zusammenkommen, bitte bei Interesse bei mir (per SMS z.B.) melden, damit ich bei Nicht-Zustandekommen auch absagen kann, sonst steht wer vor verschlossener Tür, das wär schade 😉

So hat man zu lieben. Wenn, dann richtig. Sonst ist es keine Liebe. Nur.. Machtspiel. Oder vielleicht auch Lust. Nein, Liebe, richtige Liebe, ist bedingungslos.

Und so hatte er geliebt, mit all seiner Macht, mit all seiner Hoffnung, mit all seinem Glauben. Hatte Erwiderung gefunden. Den einen anderen Menschen, von dem die in Unzahl verschlungenen Geschichten sprachen. Hatte sich ein paar Jahre an das vorgeschriebene Skript gehalten, bis der innere Widerspruch ihn doch unausweichlich mit der komplexeren Wahrheit konfrontierte: dass es da mehr gab als den beschriebenen einen anderen Menschen.

Solche Geschichten zu aufzufinden war schwieriger, umso mehr Geschichten von Menschen, die sich dieser Wahrheit gestellt und damit auch glücklich geworden waren. Es überwogen die Tragödien und Dramen, die Eifersuchts-Szenen bis hin zu Morden im Affekt. Warum sich all dem aussetzen? Warum nicht lieber die Geschichten seiner Kindheit nachspielen, die im Gegensatz dazu meist gut endeten? Was bedeutete ein kleines Opfer an Wahrheit schon im Gegenzug für ein „glücklich bis ans Ende ihrer Tage“?

An dem Tag, an dem er die Realität hinter den Geschichten nicht nur in Andeutungen spürte, sondern mit ihr unmissverständlich konfrontiert wurde, hatte er seine Antwort. Es war bequemer, sich an das Skript zu halten, sich in die endlosen Reihen der Schauspieler vor ihm einzureihen. Nicht mehr alleine, sondern Teil einer kollektiven Geschichte zu sein, und wenn es auch bedeutete, den widerspenstigeren Teil der eigenen Wahrheit, des eigenen Seins, mit fröhlichen Masken zu überdecken. Man muss lernen, sich anzupassen, meinte eine Freundin zu ihm. Man muss. Sonst wirst du auf Dauer nicht glücklich werden. Sie war nicht die einzige, die ihm derart zu helfen suchte.

Am Ende waren es dann diese nie ganz ausgelöschte Spuren von Traurigkeit, von Verlust, die sich in den Zügen jener „Glücklichen“ abzeichneten. Die Bruchteile von Augenblicken, die tiefere Einblicke gewährten, in jene, die ordnungsgemäß gelernt hatten, sich anzupassen. Da war dieser Moment der Reue, kaum wahrnehmbar, und doch den Schmerz verratend: akzeptiert worden zu sein, aber nie ganz, nie in der ganzen Komplexität, der ganzen Tiefe. Es waren gangbare Wege, akzeptable Wege, Wege aus der Einsamkeit, aber ihnen zu folgen schien doch in Sackgassen zu führen. Man war Teil eines Ganzen geworden, aber stets nur als Anteil, in innerer Rest-Spannung mit jenem Teil des Selbst, der als Gegenleistung dafür in die Untiefen des Unterbewusstseins verbannt werden musste.

Nun aufmerksamer auf die Zeichen, fand er sich inmitten wiedergekäuter Geschichten wieder, die sich in den Bewegungen, vor allem aber in den Augen seiner Mitmenschen abzeichneten. Man muss lernen, sich anzupassen, kam ihm die Aussage der Freundin wieder in den Sinn. Aber wenn das stimmte, wie waren dann all diese Geschichten, aus denen man wählen durfte, ursprünglich entstanden? War nicht am Anfang jeder dieser Geschichten jemand gewesen, der durch sein Handeln Geschichte schrieb? Woraus hatte dieser die Berechtigung bezogen, sich eben nicht für eine der bestehenden Geschichten zu entscheiden, sondern Subjekt seiner eigenen, individuellen zu sein? Und wer war überhaupt befugt, solche Berechtigungen zu erteilen oder zu verweigern?

Die Erkenntnis ließ ihn erschaudern: Ich. Und so hatte er von neuem begonnen, mit einem unbeschriebenen Blatt. Nur von der Liebe wollte er sich leiten lassen, von der höchsten, edelsten Liebe, bedingungslos, ehrlich und frei. Und so liebte er die Menschen, die seine Liebe erwiderten, und liebte jene, die dies nicht vermochten. Sah mit einem freundlichen Zwinkern auf diejenigen, die seine Liebe für sich allein beanspruchen wollten, ihn einschränken, ihn an sich binden wollten. „Nehmt!“, schien er ihnen zu sagen, „Es ist genug für alle da!“. Und lange, über viele Jahre, schien er damit auch Recht zu behalten.

Bis er sich irgendwann eingestehen musste, dass seine Liebe am Ende doch auch natürliche Grenzen aufwies, dass sie komplexer war. Nicht in ihrem Fühlen, sondern im Lebendig werden lassen in einer in sich begrenzten Welt. Liebe, das war gleichzeitig ewige, unabänderliche Essenz, und unbeständige, gewissermaßen pulsierende Form. War Vertrauen, Hoffnung auf diese Essenz hinter den Formen, war Anziehung, war Loslassen, war Wiederkehren, war… vergänglich und ewig zugleich, war Sterben lassen der Formen mit dem Glauben an die Wiedergeburt, war… keine Auswahl an Geschichten mit vordefiniertem Ausgang mehr, aus denen zu wählen war, sondern ergebnisoffen. War Risiko, nicht einmalig, sondern stets aufs Neue.

Hilfreiche Bilder fand er, wie so oft, in den Elementen: Wasser. Wasser veränderte seine Konsistenz, war nicht immer gleich greifbar, konnte Leben spenden, aber auch verletzen und töten. Bedingungslose Liebe in ihrer Essenz allein war wie Wasser in seiner natürlich vorkommenden Form. Nun hatte der Mensch über Jahrtausende gelernt, Wasserläufe ein Stück weit zu beeinflussen, ihnen zweckdienliche Formen zu verleihen. Doch dort, wo Wasser in Verkennung seiner Essenz zu kontrollieren versucht wurde, verlor es seinen lebensspendenden Wert: Wasser musste fließen können. Und doch war es auch möglich, es in Anerkennung seiner ursprünglichen Form umzuleiten, ohne es in seiner Lebendigkeit zu beeinträchtigen. War das etwa, neben der Fähigkeit, unabhängig der gerade sichtbaren Formen an die immerwährende Essenz hinter den Formen zu glauben, die wahre Kunst der Liebe?

Und so suchte er nach Wegen, seine Liebe und die jener, die für ihn Liebe empfanden, in lebendige Bahnen zu leiten, die dem gemeinsamen Wachstum förderlich sein würden. Liebte bedingungslos, und doch stets bemüht, im Ausdruck dieser Liebe die Bahnen zu achten, die die Bedürftigkeit des Einzelnen vorschrieben. Versuchte, ganz zu lieben, unverdrängt, und damit auch anderen den Raum zu eröffnen, sich ebenso ganz, nackt zu zeigen. So ineinander zu fließen, dass die gegenseitig gefühlte Liebe Leben und Lebendigkeit spendete.

Es war ein schwieriger Weg, sich hinter die Kulissen zu begeben, hinter die Masken der öffentlichen Identität, hinter die Formen, die die Menschen vor dem ganzen Mensch zu beschützen vorgaben, hinter die Wörter, die die Identität des Einzelnen davor schützten, zu einer individuellen, einzigartigen zu werden. Und doch… fand er sich bestätigt, wenn er sich mit Menschen in diesem unbestimmten Raum wiederfand, und in ihren Augen und Herzen dieselbe Nervosität und Freude spürte, die auch ihn stets erfasste, wenn er hierher zurückkehrte. Hier war… Mögliches zu finden.

Hier, das war ein Raum reinen Potentials, gewissermaßen Wasser in seiner ursprünglichsten Essenz. Es war der Ort, an dem sich Menschen einander ganz zu zeigen vermochten, an dem sichtbar werden durfte, was der jeweils andere brauchte. An dem es wertfrei als gegeben akzeptiert werden konnte, dass auch erwachsene Menschen überhaupt brauchen durften. An dem man gemeinsam nach kreativen Lösungen suchen durfte, diese realen Bedürfnisse der Betroffenen auch erfüllt zu sehen. Und wie die in ihrer Essenz vorhandene Liebe zueinander so ausgedrückt werden konnte, dass sie auch immer wieder das das Geschenk empfunden werden konnte, das sie darstellte.

Vor Jahren hatte er begonnen, diesem Weg zu folgen, der streng genommen erst Weg wurde, indem man ihn gegangen war. Immer wieder hatte er sich mit anderen Menschen an jenem Ort reinen Potentials wiedergefunden. Oft hatte er lange nicht mehr dorthin zurückgefunden, oder ohne die Menschen, für die er Liebe empfand, wieder dort anzutreffen, weil auch diese sich bisweilen in der Welt verlaufen hatten. Oft hatte er gelitten, oft war er versucht gewesen, doch den Rat der Freundin anzunehmen. Man muss, hatte sie gesagt.

Doch trotz aller Erfahrungen, die ihn bisweilen an seinen Entscheidungen zweifeln ließen, trotz aller Narben, die er an seiner Seele davongetragen hatte, verlieh ihm doch eines Mut: er konnte sich eingehend im Spiegel betrachten, und fand doch sehr oft ein Lächeln in diesem vertrauten Gesicht. Konnte tief in diesen Augen schürfen, und fand doch, obwohl sich neben Freude bisweilen auch Traurigkeit darin finden mochte, keine Reue.

Man muss nicht, dachte er. Man kann. Man kann aber auch nicht, wenn man nicht will, und es sich nicht richtig anfühlt. Vielleicht liegt darin ja das ganze Geheimnis. Dass man aus viel mehr als ein paar vorgefertigten Geschichten wählen kann. Solange man sich dabei noch im Spiegel betrachten und zufrieden sein kann mit dem, der einem da entgegenlacht. Dann kann man auch mal falsch liegen. Und manchmal richtig.

Und so, aus dieser einen ursprünglich Entscheidung, durch eigenes Handeln einen eigenen, stimmigen Weg zu gehen, eine Geschichte schreiben, die es auch wert ist, gelesen zu werden.


P.S.: Ein wenig Werbung in eigener Sache:
In den nächsten zwei Wochen gibts von mir im FreiRaumWels jeweils Dienstag, 19:00 einen Vortrag anzuhören:

  • 29.5., 19:00 – Der universelle Entwicklungskreislauf (was hat die Arbeitsweise von Psychotherapeuten, Schamanen, Heilern, Lehrern, … gemeinsam? Welche Rolle spielen Drogen und Süchte darin? Was können wir daraus für den Alltag lernen?)
  • 5.6., 19:00 – Führen zur Selbstverantwortung (Wie führt man andere so, dass sie eigenständig und in Eigen-Initiative lernen/arbeiten, bzw. wie gestalte ich Soziale Systeme wie z.B. eine Schulklasse so, dass sie die Eigen-Initiative und Selbstverantwortung unterstützen statt wie sonst oft eher blockieren?)

Mehr Informationen dazu gibts unter Vorträge/Workshops – ich freu mich auf euer kommen 🙂

 

Nun also war der letzte Tag angebrochen.
Bis hierher hatte er es ganz gut ausgehalten. Hatte sich beschäftigt. Schließlich gab es noch so viel zu tun. Einkaufen. Aufräumen. Abschließen, was knapp ein Jahr zuvor begonnen worden war. Ein Ende finden, das tragbar war, übertragbar, in ein neues Jahr, mit neuen Aufgaben und Herausforderungen. Das hier würde weitergehen. Er würde weitergehen. Nur die Wege, die würden sich trennen.

Als die anderen eintrafen, wurde viel gesprochen, wurde wenig gesagt. Rasch merkte er, dass er niemals fertig werden würde mit all dem, was er sich vorgenommen hatte. Einige der Kinder fingen von sich aus an, sich nützlich zu machen. Manche Eltern erschienen, bereits früher als erwartet. Die Räumlichkeiten, mit denen er ursprünglich geplant gehabt hatte ,standen nun spontan doch nicht zur Verfügung. Improvisieren. Sich beschäftigen. Nicht nachdenken. Bald war es vorbei.

Als der Junge die Gitarre aus der Hand gab, strahlte er, ein Lichtblick, verkannt im allgemeinen Trubel. Wochenlang hatte er auf diesen Moment hingeübt gehabt, hatte mit sich gerungen, ob er sich trauen sollte oder nicht. Hatte sich getraut. Glückwunsch! Auch die anderen kleinen Darbietungen der Kinder waren nun durch. Der Moment. Nun war es also soweit.

Eine Woche lang hatte er sich hingesetzt und sich jeden Tag vorgestellt, was er ihnen noch sagen würde. Eine kleine Rede hatte er sich vorgestellt. „Was ich euch noch sagen wollte“. Was blieb zu sagen, in den wenigen Minuten? Wie in Worte fassen, was ihn schier zerriss?

Als er ansetzte zu sprechen, wurde es stiller, und als die Versammelten erkannten, dass er nicht laut sprechen würde, völlig still. Es war schwierig zu sprechen, jedes Wort ein Kampf. Und plötzlich, in die Stille, das Klatschen einer der Jugendlichen. Er verlor irritiert den Faden, alles Zeitgefühl, und brachte seine Rede rascher zu Ende als geplant, weil er wähnte, bereits Stunden gesprochen zu haben.

Später entspannte sich die Stimmung etwas, und einige der Erwachsenen saßen recht gemütlich zusammen, während die Kinder nebenbei spielten. Er fühlte sich elend, freute sich darauf, dass alles vorbei sein würde, wollte es sich aber nicht anerkennen lassen.
„Ich bin heute ein wenig überfordert“, meinte er entschuldigend.
„Ja, warum hast du uns denn dann nicht um Hilfe gebeten?“, hatte eine ältere Dame geantwortet.

Ja, warum nicht? Die Frage kam ihm nun, Monate später, wieder in den Sinn, und die Antwort, die ihm in den Sinn kam, war irritierend: es war ihm schlicht gar nicht in den Sinn gekommen. Er hatte die unausgesprochene Überforderung aller mit der Situation gespürt, und offenbar ganz automatisch versucht, sie für alle anderen auszuhalten. Hatte anderen Sicherheit schenken wollen, wo er doch innerlich selbst derart zerrissen gewesen war.

Das war, rückblickend betrachtet, auch der wahre Grund gewesen, warum sich schlussendlich die Wege getrennt hatten. Er war nicht bereit oder fähig gewesen, seine eigenen Begrenzungen anzuerkennen, und entsprechend zu handeln. Er hätte früher für überschaubarere Verhältnisse sorgen müssen, aber er hatte sich davor gescheut. Oder um Hilfe bitten müssen, und auch das war ihm offensichtlich damals noch nicht gelungen. Wozu diese ohmächtigen Allmachts-Fantasien von Ich-komme-schon-zurecht?

Später hatte man ihm erzählt, der klatschende Jugendliche wäre ehrlich begeistert gewesen von seinen Worten. Gern hätte er dem Jungen nachträglich dafür gedankt.

Warum verdienen manche Menschen mehr als andere? Und wie könnte man zu einem dieser Menschen werden? Oder anders gefragt: was steht uns dabei im Weg?

Gestern Abend war ich auf einer Veranstaltung in Linz, wo es um innere Einstellungen zu Geld und Einkommen ging. Während ich der Vortragenden lauschte, schrieb ich mit – was sie sagte, und was mir selbst dazu einfällt, weil ich oft am besten nachdenken kann wenn „im Hintergrund“ jemand spricht. Dabei ist mir ein alter Gedanke wieder eingefallen, über den ich – meiner Erinnerung nach – noch nie hier geschrieben habe, obwohl ich es mir schon oft vorgenommen habe: die problematische Art und Weise, wie der Großteil von uns ihren eigenen wirtschaftlichen Wert für andere einschätzt und bemisst.

Gehalt = Schmerzensgeld

Die meisten Menschen in einem Anstellungs-Verhältnis werden nach Stunden bezahlt, nach dem Muster „Ich arbeite 30h/Woche für dich“. Dafür bekommen sie vom Arbeitgeber eine „Entschädigung“, die – wie das Wort bereits enthält – den „Schaden“ für den Arbeitnehmer aus dieser Beziehung kompensieren soll. Der Arbeitnehmer tut also etwas, was er ansonsten nicht (gerne) machen würde, und erhält dafür als Gegenleistung einen Geldwert. In diesem Denkmodell basiert die Summe, die der Arbeitnehmer erhält, auf den Unannehmlichkeiten, das der Arbeitnehmer durch die Zusammenarbeit erleidet, und stellt damit gewissermaßen ein „Schmerzensgeld“ dar. Je unangenehmer, desto mehr Schmerzensgeld steht dem Arbeitnehmer zu (40h derselben Arbeit bringen mehr als 20h dieser Arbeit).

Was passiert aber nun, wenn der Arbeitnehmer – wie es in meinem Fall passiert – sich entscheidet, sich selbstständig zu machen, mit einer Tätigkeit, die ihm selbst auch tatsächlich Freude bereitet? Es wird ihm möglicherweise schwer fallen, einen angemessenen Preis für seine Leistungen zu verlangen, weil er die Tätigkeit ja gerne verrichtet. Er hat keinen Schmerz, der als Schmerzensgeld zu entlohnen wäre – warum soll ihn also jemand dafür bezahlen, wenn er die Tätigkeit ohnehin liebt?

Wert = Nutzen

Das Problem im Ansatz Gehalt=Schmerzensgeld ist, dass sich das Geld das man als Gegenleistung bekommt am eigenen Schmerz orientiert. Fragt man sich stattdessen, welchen Nutzen die eigene Tätigkeit für jemand anderen haben kann, so verliert die Frage ob es für einen selbst anstrengend ist oder eine Freude an Bedeutung.

Wenn ich mir einen neuen Laptop kaufe, ist mir der Nutzen wichtig, den ich von dem neuen Laptop habe, nicht ob der Verkäufer im Verkaufsprozess gelitten hat oder es ihm eine Freude war. Aus einer empathischeren Perspektive würde ich es natürlich bevorzugen, wenn es auch dem anderen gut geht (siehe Bio-Zertifikate etc.), aber dies ändert an sich nicht viel am Nutzen, den ich durch den Laptop-Kauf für mich selbst habe.

Wertunterschied = Passgenauigkeit des Nutzens

Die Vortragende gestern warb für ein Programm über 6 Monate, das 7200€ kosten sollte, das sind 1200/Monat und Nutzer. Ohne mit der Wimper zu zucken, als wären dies völlig normale Beträge. Und tatsächlich gehe ich davon aus, dass es Menschen im Publikum geben wird, die das Programm in Anspruch nehmen werden, wenn sie vom Nutzen für sie selbst überzeugt worden sind. Dass der Aufwand für die Vortragende dabei (nach ihren Ausführungen) vernachlässigbar ist, zeigte für mich relativ klar auf, wie viel sinnvoller der Fokus auf den Nutzen für den Anderen ist als der Fokus auf die Ent-Schädigung des eigenen Einsatzes.

Eine im Vortrag gestellte Frage fand ich auch interessant: warum verdienen manche Menschen mehr als andere, obwohl sie nicht offensichtlich intelligenter oder fähiger sind als ich? Die Antwort wurde nicht verbal gegeben, aber durch das Tun der Vortragenden war eine mögliche sichtbar geworden: weil sie den Mut haben, einen Wert für ihr Angebot festzusetzen, der über dem der anderen liegt. Der Wert des eigenen Angebots wäre damit gewissermaßen frei wählbar.

Wer hat den Mut dazu, diese Freiheit auch praktisch zu nutzen?

Niklas

Warum machen Prüfungen Angst? Warum brauchen wir sie überhaupt? Und wie können wir Prüfungen so einsetzen, dass sie eine konstruktive Rolle spielen und die Selbstständigkeit und Weiterentwicklung der Lernenden unterstützen?

Prüfungen (in der Folge werden auch „Tests“ als Prüfungen bezeichnet) übernehmen in unserem Bildungssystem eine zentrale Funktion und sind aus ihm kaum wegzudenken. Sie lassen sich jedoch durchwegs auch anders denken – und eröffnen somit interessante Spielräume für pädagogische Innovationen.

Grundsätzlich lassen sich drei Grundfunktionen von Prüfungen unterscheiden:

  • Bewertung
  • Feedback
  • Selektion

Eine klassische Schularbeit etwa erfüllt in der Praxis nur die Funktionen der Bewertung und der Selektion. Der Schüler bekommt zwar durch die Beurteilung der Schularbeit auch Feedback zu seiner Leistung, meist hilft ihm dies jedoch nur wenig, weil es nur selten eine Chance zur Wiederholung gibt bzw. das Erstergebnis mit dem zweiten kombiniert wird.

Außerdem ist die Prüfung selbst im Regelfall nur ein Teil eines Benotungs-Systems, das für den Schüler zu unübersichtlich (wenn überhaupt zugänglich) ist, um einen direkten Zusammenhang zwischen Prüfung und ihrer Konsequenz herzustellen. Wohl wird er anhand der Prüfung selektiert, aber er ist passives Objekt der Selektion, das vom guten Willen des selektierenden Lehrers abhängig ist, auch weil ein großer Teil der Leistungsbeurteilung von der subjektiven Einschätzung des Lehrers abhängt (Motivation des Schülers etc.), die der Schüler – wenn überhaupt – nur indirekt beeinflussen kann.

In einer 4. Klasse Deutsch hatten einige Kinder Angst vor ihrer ersten Schularbeit – und kein Wunder! Ein einziger Tag, in einer neuen Situation (Prüfung), sollte maßgeblich über ihre Bewertung in 1 (sehr gut) bis 5 (nicht genügend) bestimmen. Ihre Leistung an diesem Tag stellte die Weichen, ob sie in Zukunft ins Gymnasium oder in die NMS gehen würden, und entschied damit über langfristige Zukunftsperspektiven mit.

Keine Angst mehr vor der Schularbeit

Darum drehte ich als ihr Lehrer die Angst vor der Prüfung einfach auf den Kopf: wir schrieben nun einfach ab der zweiten Schulwoche jeden Freitag eine Schularbeit. Schon vorher hatten die Kinder von mir ein Übersichtsblatt mit Beurteilungskriterien und erreichbaren Punkten bekommen, komplett mit einer Liste an objektiv nachvollziehbaren Abzugsmöglichkeiten.

All diese Schularbeiten wurden von mir im Sinne der Feedback-Funktion von Prüfungen bewertet als wären es „richtige“ Schularbeiten, so dass die Kinder die Chance hatten, durch Experimentieren herauszufinden, wie sie mehr Punkte erreichen konnten. So wurde etwa vor der ersten „richtigen“ Schularbeit, zu der eine Bildgeschichte kommen würde, jede Woche ebenso eine Bildgeschichte geschrieben.

Wenig überraschend hatte sich die gesamte Klasse nach 5 Wochen um im Durchschnitt einen Notengrad verbessert (abgesehen von denjenigen, die ohnehin von Anfang an 1er-Kandidaten waren), und die Angst vor der “echten” Schularbeit war auch bei den vormals „schlechten“ Schülern verflogen. Warum? Die wöchentliche Schularbeit in dieser Form hatte eine echte Feedback-Situation, die es ermöglichte, sich auf die bevorstehende „richtige“ Prüfungs-Situation vorzubereiten.

Keine Angst mehr vor dem Stoffdruck

Ein ähnliches Konzept verwendete ich, um den restlichen Jahresstoff zu vermitteln. Ich teilte ihn in kleinere und sinnvoll zusammengefügte Einheiten auf, für die jeweils etwa 4-6 Wochen Zeit war, und überlegte mir jeweils am Anfang bereits, wie ich die zu erwerbenden Fähigkeiten am Ende prüfen wollte.

Bevor ich anfing etwas zu vermitteln, ließ ich die Kinder die endgültige Prüfung versuchen. Anhand der Ergebnisse war es mir nun möglich, das vertieft zu vermitteln, was den Kindern noch an Fähigkeiten fehlte, und das auszulassen, was sie ohnehin schon beherrschten. Manche Kinder erreichten bereits 10/10 Punkte, bevor ich überhaupt angefangen hatte ihnen den Stoff zu vermitteln – diese wurden nun weitere relative Meister, die mit mir gemeinsam denjenigen halfen, die noch nicht die volle Punktzahl erreicht hatten.

Da ich die Prüfung (wie die Schularbeiten) von vornherein  als eine Art „Blaupause“ durchdefiniert hatte, war es ein Leichtes, aus dieser „Blaupause“ jeweils neue, gleich schwierige Prüfungen zu fertigen, wenn Schüler sich im Lernstoff sicher genug fühlten, um die Prüfung zum jeweiligen Lernblock erneut zu versuchen. Da es nur 1x/Woche nach Anmeldung die Möglichkeit gab, eine Lernblock-Prüfung zu wiederholen, war der Aufwand für mich auch überschaubar. Die Kinder wussten von mir ganz klar, wie sich Schularbeiten, Prüfungen zu Lernblöcken etc. zur Note zusammensetzten, und konnten dadurch durchaus auch „taktisch“ agieren, wenn ihnen ein Lernblock nicht so sehr lag.

Befreiung durch Prüfungen

Weil es den Kindern auf diese Art möglich war, Prüfungen tatsächlich durch eigenes Lernen „auszubessern“, bis sie das Prüfungsziel beherrschten, war die Motivation bei den Kindern groß. Ich erklärte ihnen jeweils nur, was ihre bisherigen Ergebnisse für die Endnote bedeuten würde. Der Wunsch, weitere Prüfungen abzulegen und sich dafür vorzubereiten, ging daraufhin – wo er vorhanden war – von den Kindern aus, weil eine Prüfung noch einmal abzulegen ihnen tatsächliche Vorteile brachte.

Unser sonst üblicher Zugang zu Prüfungen führt eher dazu, dass Kinder einmal „versemmelte“ Prüfungen mit dem jeweiligen Prüfungsstoff in Verbindung bringen und das Gefühl bekommen, sie wären zu dumm dazu, ihn zu verstehen – was vor allem in aufeinander aufbauenden Disziplinen wie Mathematik fatal sein kann, wenn die Basis nicht beherrscht wird und keine Motivation oder auch Möglichkeit besteht, sie sichtbar nachzulernen.

Auf die beschriebene Weise aufbereitet war der “Stoffdruck”, von dem meine KollegInnen stöhnend berichteten, kaum ein Thema für uns. Wir waren zwar im Arbeitsbuch noch nicht weit gekommen, erreichten aber – durch die Prüfungen nachweisbar – bereits nach kurzer Zeit die Endziele der im Arbeitsbuch zur Erreichung der Endziele vorgesehenen Übungen. Anstatt sichtbar zu arbeiten, arbeiteten wir möglichst effizient auf sichtbare Ergebnisse hin.

Es ist bezeichnend, dass Kinder wie Eltern begeistert waren, KollegInnen und meine Vorgesetzte entsetzt. Ich hatte einen Interessenskonflikt für mich zugunsten der Lernenden entschieden, und damit meine Rolle als Lehrer umdefiniert vom mächtigen Selektierenden zu einer Doppel-Rolle als objektiver Prüfer und liebevoller Lernhelfer. Damals war mir noch nicht klar, wie tief diese traditionelle Rolle des Lehrers in Schulsystem und auch Wirtschaft verankert ist, weswegen ich dachte, es reiche, nachweisbar exzellente Ergebnisse mit den Schülern zu erzielen und ihnen dabei auch noch Freude am Lernen zu vermitteln. Warum dies aus heutiger Sicht eine grobe Fehleinschätzung war, darüber werde ich ein andermal schreiben.

Die Trennung von Lernen, Lehren und Prüfen

Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein, dass ich diese drei Aktivitäten voneinander getrennt betrachte. In dem beschriebenen Zugang kann jemand eine Prüfung bestehen, ohne dass ich ihn gelehrt habe, er kann auch ohne mich lernen, oder meine Hilfe in Anspruch nehmen. Dies ist höchst ungewöhnlich in unserem Schulsystem, hat aber massive Vorteile für den Lernenden.

Üblicherweise kann zu einer Prüfung nur dann angetreten werden, wenn man sich vorher über den Prüfungsstoff belehren hat lassen. Für jemanden, der den Prüfungsstoff bereits beherrscht, ist dies aber extrem ineffizient und frustrierend! Diese Verknüpfung von Lehren und Prüfungen hat neben anders ebenso lösbaren organisatorischen Vorteilen einen weiteren Grund: Prüfungen als untrennbar von der Vermittlung von den zu prüfenden Inhalten zu betrachten garantiert die Aufrechterhaltung eines hierarchischen Verhältnisses zwischen dem Lehrenden und dem zu Prüfenden, macht also das möglich, was wir als unter-richten kennen. Mein bunterrichten-Ansatz stellt diesen völlig auf den Kopf und schafft völlig neue Möglichkeiten.

Die Einführung der Zentralmatura war ein sehr interessanter Schritt diesbezüglich, den ich für sehr sinnvoll halte, weil er objektive Prüfungen und damit eine Öffnung der möglichen Lernwege ermöglicht. Wünschenswert wäre jedoch noch die Möglichkeit, die Zentralmatura jederzeit (gerne auch gegen eine kleine Entschädigung für den Aufwand) ohne vorherigen Kursbesuch abzulegen. Immerhin ist die Matura eine Art Tür-Öffner zum Studium in Österreich, die v.A. vielen Lehrlingen verschlossen bleibt (Ausnahme: Lehre mit Matura). Was uns zum nächsten Punkt bringt:

Prüfungen als Tür-Öffner für bestimmte Rechte

Es macht durchaus Sinn, dass in Österreich nur jene Menschen Auto fahren dürfen, die über eine Prüfung bewiesen haben, dass sie das notwendige praktische Können und theoretische Wissen erworben haben.

Was würde passieren, wenn wir ähnlich wie beim Erlangen des Führerscheines in Schulen bestimmte Vor-Rechte davon abhängig machen, durch eine Prüfung die notwendigen Voraussetzungen bewiesen zu haben? An einer freien Schule, an der ich gearbeitet habe, wurde mit Hilfe eines sogenannten „Zertifikat-Systems“ genau dieses Konzept umgesetzt. Je nach Zertifikat-Level war es Schülern erlaubt, sich in verschieden großen Freiräumen zu bewegen. Wer etwa nur das Zertifikat Z1 aufwies, durfte sich nur innerhalb der Schule frei bewegen, mit Z2 war auch der Garten inkludiert und mit Z3 durfte man sich unter gewissen Bedingungen auch außerhalb des Schulgeländes bewegen, etwa um für die Werkstatt Material einzukaufen.

Muss erwähnt werden, dass die Kinder die Zertifikats-Stufen im Großen und Ganzen gut respektierten, und sehr motiviert waren, sich erweiterte Freiräume über ein Ablegen der entsprechenden Prüfungen zu erlangen? Der Vollständigkeit halber: bei schweren Verstößen gegen die im jeweiligen Zertifikat verlangten Verhaltensweisen konnten Zertifikats-Stufen auch eine Zeit lang oder ganz entzogen werden (wie man es vom Führerschein auch kennt).

Wie oft werden an Regelschulen Prüfungen als Tür-Öffner für bestimmte Rechte eingesetzt, die sofortige und direkt spürbare Konsequenzen für den Schüler mit sich bringen? Derzeit ist ein selbstständiges Lernen allein (etwa aus Büchern oder durch eigene praktische Erfahrung) kaum in gesellschaftlich anerkannte Rechte umwandelbar. Wie würde unsere Gesellschaft aussehen, wenn wir die Trennung von Vermittlung und Prüfung vorantreiben – würden wir dadurch nicht selbstständiges Lernen massiv aufwerten?

Die Kernfrage: bin ich als Lehrer bereit, meine Rolle zu hinterfragen?

Prüfungen als Tür-Öffner-Funktion sowie als Feedback einzusetzen setzt eine bestimmte Haltung voraus, die davon ausgeht, dass Lernen und Entwicklung eines jeden Menschen jederzeit möglich ist. Diese Haltung besagt, dass ein Mensch bei einer Prüfung zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Punktezahl erreicht haben mag, aber dass es nicht notwendigerweise dabei bleiben wird, und dass er sein Leben lang Entwicklungspotentiale in sich hat.

Diese Haltung setzt auch voraus, dass sich der Lehrende/Prüfer erlaubt, einen Teil seiner Kontrolle und Macht aufzugeben und in die Hände der ihm anvertrauten Lernenden zu legen. Wer diesen Mut besitzt, wird wie ich überrascht sein, was dadurch plötzlich alles möglich wird – u.A. wachen dieselben Kinder, die vormals unter der Schule litten, dann – laut Rückmeldung der Eltern – morgens auf und freuen sich auf den Schultag…

Niklas

Es ist lange her, dass ich zuletzt geschrieben habe. Zu lange. Ich habe dich vermisst, Gegenüber aus Papier, so formvollendet weil formlos, so voller Potential und doch so leer. Ich habe von dir gelassen, weil ich „etwas aufbauen“ wollte, wenn-dann-richtig-schreiben, mit Sinn, mit Fokus auf eine möglichst gewisse Zukunft. Habe verdrängt, dass Geschichten Wort für Wort errungen werden. Dass das Erleben flüchtig ist und nur die Rückschau bleibt. Die Zukunft aber ist stets ein unbeschriebenes Blatt.

Es tut bisweilen gut, sie sich auszumalen, sie zu konzeptualisieren, solange noch Platz übrig ist sich zu entfalten, an letzten Schräubchen zu drehen, wenn der Moment heranbricht. Nicht nur noch „abzuleben“, was längst definiert und mehrseitig abgesegnet wurde. Immerhin war es ja mal gut, wie kann es da misslingen? Ha!

Und dann habe ich dich getroffen, und du bist in mein Leben geflossen. Sanft, auf Umwegen, irgendwie oft meilenweit entfernt, und doch immer dabei. Ich habe dich geliebt, und ich wollte, konnte dich nicht gehen lassen, selbst dann, als es notwendig erschien. Ich wollte die Kraft aufbringen, dich lieben zu können, auch wenn es meine Grenzen sprengte. Du hast mich nie darum gebeten, dies zu tun, und ja, es ist unfair, dir vorzuwerfen, was doch meine Entscheidung war. Ich hätte auch gehen können, vielleicht auch sollen. Wäre das „authentischer“ gewesen, wie du das gerne zu nennen pflegst? Manchmal ist zu gehen schwieriger als zu bleiben.

Es ist nur dann auch schön, nicht einsperrend, wenn eine solche Verbindung als Geschenk gemeint ist, hast du gesagt. Wahrscheinlich meinst du damit sinngemäß „bedingungslos“. Das war es, immer. Irgendwann jedoch überstieg die Überforderung meine Kräfte. Ich wollte dich nicht hängen lassen, blieb für dich da, so gut ich es vermochte. Und mit dem Schwinden meiner Kräfte erwachte plötzlich ein neues Bedürfnis in mir: gesehen werden. Gewertschätzt für das, was ich aus Liebe versucht habe zu leisten, was ich war und geworden bin. Nicht als Bedingung meiner Liebe, nein! Als unabhängiges Bedürfnis, im Außen als wertvoll erlebt zu werden, und auch mich selbst lieben zu lernen.

Leider fehlt mir darin die Übung. Ich habe in meinem Leben viele komplizierte Mechanismen entwickelt, um mich dem tiefsten Kern nicht stellen zu müssen. Um dorthin vorzudringen, muss ich vorher erst die ganzen Schutzvorrichtungen darüber abbauen. Wer werde ich danach noch sein? Werde ich am Ende dieses Weges noch ein Dach über dem Kopf haben, noch erkannt werden von Freunden und mir selbst im Spiegel? Wer hätte noch Respekt vor mir als Landstreicher, als Sonderling, als der, der sich womöglich zeigen mag?

Ach, würde ich mein Leben leben ohne Hemmungen, so würde ich schreiben, schreiben, schreiben, nicht nur in den Pausen, die die Hülle meines äußeren Lebens mir lässt. Ich würde die Welt so richtig auflaufen lassen an mir, mit all ihren projizierten Bedürfnissen und Formen. Die größte Angst, so wird mir immer mehr bewusst, ist die, uns am Ende allein zu finden. Was, wenn wir irgendwann so ungefiltert wir selbst sind, dass wir uns gegenseitig nicht mehr ertragen können? Können wir dann die alten Masken wieder aufsetzen? Tun, als wäre nichts gewesen, als hätten wir uns nicht längst bereits geschaut?

Deshalb der Spagat von Jetzt-Welt und Verlangen. Deshalb die Worte, die ich nur schreiben kann, niemals aber sprechen. Auf Papier machen sie mich ganz, ausgesprochen bergen sie zu großes Risiko. Ich denke, ich wär vielleicht sogar eine schöne Zumutung. Allein, mir fehlt noch der Mut.