Zerbrochener Felsbrocken

Er war seit Monaten nur noch selten in jener Wohnung gewesen, seit er begonnen hatte, an ihrer Seite Wurzeln zu schlagen, Raum einzunehmen. Nun, da er im Zuge des Umzugs Stück für Stück seiner Vorgeschichte, verewigt in all jene Objekte die das alte Zimmer ausfüllten, ausgeräumt und auf seine zukünftige Nützlichkeit überprüft hatte, war er dem Moment zunehmend näher gekommen, wo er sich mit dem Felsbrocken beschäftigen würde müssen.

Der Felsbrocken war das Symbol gewesen, dass auch der Vater bereit sei, seinen Teil der Verantwortung zu tragen. In einem Moment der Verbundenheit hatten sie ihn aus dem Fluss geholt und gemeinsam nach Hause gebracht, sichtbares Zeichen einer neuen, gesünderen Ordnung zwischen ihnen.

Nun, einige Monate später, während das Zimmer rundherum sich mehr und mehr leerte, wurde ihm die Absurdität des Ganzen mehr und mehr sichtbar: Der Felsbrocken, die Schwere, die Verantwortung für die er stand, war wieder einmal nur bei ihm liegen geblieben, trotz aller hoffnungsvollen Worte und Versprechungen, dass von nun an alles anders werden würde. Der Kontakt zu jenem anderen war mittlerweile vollends abgebrochen. Die Schwere, der große Brocken, war ihm geblieben.

Auf ihr Anraten hatte er den Felsbrocken von seinem Platz entfernt, ihn mitgenommen, auch wenn dieser fast zu schwer war, ihn alleine weiter als einige Meter zu schleppen. Ins Auto damit. Dorthin, wo er hingehört. Zu ihm. Einfach in den Garten legen. Oder vor seine Einfahrt. Dann musste jener zumindest einmal auch diese Schwere ertragen, wenn er mit dem Auto rauskommen wollte. Aber durfte man so etwas überhaupt? Vielleicht übersah der Andere ja den Felsen einfach und fuhr ungebremst dagegen…? Schadenersatzforderungen waren in diesem Fall wohl gar nicht so abwegig.
„Der bleibt nicht in deinem Auto. Oder hier bei uns. Das ist nicht gut für dich und uns“, hatte seine Gefährtin gemeint, und natürlich Recht damit gehabt. Also doch einfach zu seinem Vater bringen?

Doch da war da noch ein Nachflimmern einiger Sätze, die dieser ihm irgendwann gesagt hatte. Davon, dass seine Mutter sich einst durch ihre Krankheit und ihren Tod aus der Verantwortung gestohlen hätte, und dass er doch eigentlich auch auf sie wütend sein müsse. Aber durfte man das? Was konnte sie für ihre Krankheit, ihren Tod? Und doch.. war da ein Funken Wahrheit zu finden. Womöglich  nicht so, wie der Vater es meinte. Aber trotzdem hatte auch seine Mutter einen Teil des Felsbrockens verdient. Auf die ihre Art.

Einige Tage später fuhr er mit seiner Gefährtin zu dem nahe gelegenen Fluss. Eine kleine Brücke führte darüber, womöglich ein geeigneter Ort für ihr Vorhaben, den Felsen endlich aufzubrechen. Er war derart massiv, dass es wie ein absurdes Unterfangen wirkte. Konnte es tatsächlich gelingen? Und doch… aus genügend großer Höhe womöglich…?

Der Anblick des fallenden Felsbrockens, sein Zerbersten und das donnernde Geräusch dabei brannten sich in seine Erinnerung ein als ein glorreicher Moment der Befreiung.
„Welchen Teil gehört für dich denn zu deinem Vater?“, fragte sie ihn. „Welcher zu deiner Mutter?“
Den zu seiner Mutter konnte er sofort ausmachen. Der würde gut zu ihrem Grabstein passen. Der größere Rest des Felsbrockens erschien ihm jedoch unfair groß im Vergleich, wurde seinem Vater nicht gerecht. Die noch kleineren Splitter schienen dagegen zu klein.
Der Große muss noch einmal brechen, wurde ihm klar.

Wieder auf die andere Seite der Brücke, barfuß durch den Fluss gewatet, den verbliebenen größeren Teil des Felsbrockens holend, wieder auf die Brücke, und er ließ den Brocken nochmals fallen. Zahlreiche Splitter sprengten sich nochmals ab.
„Und jetzt?“, fragte sie ihn.

Da wurde ihm mit einem Mal klar, dass er niemals fertig werden würde, einem jeden seinen gerechten Teil zukommen zu lassen. Er selbst hatte wohl seinen Teil verdient, sein Vater, seine Mutter, aber ebenso ihre Eltern und die Eltern ihrer Eltern und immer so weiter, gar nicht zu sprechen von allen möglichen weiteren Menschen die einen im Laufe eines Lebens so beeinflussten. Und selbst würde ihm diese Aufgabe gelingen – was hätte er damit erreicht? Machte es wirklich freier wenn man wusste warum man unfrei war, sich Begründungen dafür aus einer Vergangenheit logisch herleiten konnte?

Der Felsen bleibt hier“, meinte er zu ihr, fühlend, wie die Schwere des Felsbrockens, der Schuld, des Schmerzes von seinen Schultern genommen worden war, wenn er ihn nur loszulassen vermochte. Warum irgendjemanden anderen weiter damit belasten? Er brauchte nichts mehr von ihnen.

Kurz fand er in sich den Impuls, sich ein Andenken an jenen denkwürdigen Moment mitzunehmen, ein kleines Stück des einst so schwerwiegend erscheinenden Brockens. Aber das hätte eine Erfahrung entehrt, die da ganz war, nicht nur eine stückweise Erleichterung, von viel zu schwer zu weniger schwer.

Was, wenn man tatsächlich einfach aufhörte, irgendwelche Felsbrocken an irgendjemanden verteilen zu wollen, weil man glaubte es sei ja so unfair dass man ihn selber tragen müsse und der andere nicht? Denn die unbequeme Wahrheit war am Ende doch jene: er selbst hatte den Felsbrocken damals mit nach Hause geschleppt. Es war seine eigene Idee gewesen, ihn gemeinsam aus dem Fluss zu holen, und er hatte ihn sich behalten wollen. Nun war auch er es, der ihn gehen lassen musste. Diese Verantwortung konnte ihm niemand abnehmen.

Denn sonst, so fühlte er es mittlerweile recht deutlich, wäre man ja wie jemand, der einen Roman liest der ihm nicht gefällt, wissend dass er auch nicht besser wird, trotzdem weiterliest und sich dann beschwert dass das Buch schlecht war. Man konnte auch einfach das Buch weglegen und ein anderes lesen. Oder selbst eins schreiben, mit überraschenden Wendungen und viel mehr Freude drin. Oder sogar ganz wagemutig sein, all die Bücher hinter sich lassen, die Tür aufmachen und mal rausfinden wie das Leben so ist wenn man sich mal wieder ungefiltert drauf einlässt.

Vermutlich war das dann gar nicht mehr so schwer.

Der Großteil aller Menschen wird darin übereinstimmen können, dass Freiheit erstrebenswert ist. Die Übereinstimmung ist derart selbstverständlich, dass sich eine Frage in vielen Diskussionen gar nicht mehr zu stellen scheint: Was meinen wir eigentlich, wenn wir von „Freiheit“ sprechen? Ist der Begriff tatsächlich so hinreichend erklärt, wie wir ihn verwenden? Und wenn ja: Wie kommt es dann, dass Menschen, denen „mehr“ Freiheiten zur Verfügung stehen als uns, nicht unbedingt glücklicher zu sein scheinen als wir selbst?

Objektive vs. Subjektive Freiheit

Im alltäglichen Gebrauch würden die meisten Menschen Freiheit als berechenbar definieren. Ich kann nicht nur frei sein, sondern auch freier. Mehr frei als jemand anderer. Diese Art, „Freiheit“ zu definieren, bestimmt die Strategien, die wir anwenden, um zu mehr Freiheit zu gelangen: Falls wir uns unfrei fühlen, arbeiten wir daran, uns ein Mehr an Optionen zu erarbeiten.

Wenn uns zehn Wahlmöglichkeiten in einer Situation offen stehen, sollten wir uns demnach freier fühlen als wenn uns nur drei Wahlmöglichkeiten offen stehen. Immerhin sind wir – nach unserer berechenbaren Definition – damit objektiv betrachtet freier.

Das Problem bei dieser Herangehensweise ist jedoch, dass Freiheit zwar von objektiven Möglichkeiten beeinflusst, im Kern aber eine zutiefst subjektive Wahrnehmung ist. Wenn wir zwei Menschen, A und B, in die objektiv betrachtet exakt gleiche Situation versetzen, ist die Chance groß, dass sich ihr Freiheitsempfinden sehr voneinander unterscheidet.

Ein Bereich des Lebens, der dies sehr deutlich veranschaulicht, ist die Liebe. Ich kann mir als Mann ein Verhältnis mit fünf Frauen anfangen (und natürlich auch umgekehrt usw.). Objektiv betrachtet bin ich dann womöglich „freier“ in der Auswahl, mit wem ich meine Zeit verbringen möchte. Aber wenn ich in einem Moment das Bedürfnis nach Kontakt zu einem Menschen habe, mit dem ich in diesem Moment nicht in Kontakt sein kann, werde ich mich trotz meiner vielen alternativen Möglichkeiten unfrei fühlen.

Selbst wenn der Kontakt mit nur einem einzigen Menschen „alternativlos“ und damit nach objektiven Kriterien „unfrei“ sein sollte: wenn es das ist, was ich mir in dem Moment wünsche, werde ich mich subjektiv frei fühlen.

Freiheit und stimmiger Kontakt

Was für die Liebe gilt, lässt sich auch auf so ziemlich jeden anderen Lebensbereich übertragen. Für unsere Wahrnehmung von Freiheit ist entscheidend, ob es uns möglich ist, das zu tun/kommunizieren, was sich für uns subjektiv im Moment stimmig anfühlt. Ist diese Möglichkeit gegeben, fühlen wir uns frei. Ist sie es nicht, fühlen wir uns unfrei, weitgehend unabhängig von unseren objektiven Möglichkeiten. Oder anders ausgedrückt: Solange wir in stimmigen Kontakt mit uns selbst, anderen und der Welt gehen und darin bleiben können, fühlen wir uns frei. Sobald irgendetwas uns daran hindert, fühlen wir uns unfrei.

Dabei lässt sich eine grobe Unterscheidung treffen zwischen inneren und äußeren Blockaden unserer subjektiv erlebten Freiheit. Eine äußere Blockade könnte z.B. sein, dass ich, um offiziell als Unternehmensberater tätig sein zu dürfen, dafür bestimmte Voraussetzungen erfüllen muss. Bei einer äußeren Blockade besteht die Chance, dass mich tatsächlich eine Konsequenz erwartet, die von außen kommt. In dem beschriebenen Fall z.B. eine rechtliche Strafe, falls ich ohne Berechtigung als Unternehmensberater auftrete. Diese Art von Blockade kann ich überwinden, indem ich darauf hinarbeite, die entsprechenden Voraussetzungen zu erfüllen.

Eine innere Blockade hingegen berührt Überzeugungen über die Welt bzw. mich selbst, die verhindern, dass ich in stimmigen Kontakt bleiben kann. So mag es beispielsweise dazu kommen, dass ein potentieller Kunde Interesse daran hat, mit mir zu arbeiten. Vielleicht berührt dies aber in mir die Überzeugung, dass ich es ja in Wahrheit gar nicht wert sei, dass Kunden mir vertrauen. Nun blockiere ich mich womöglich innerlich dermaßen, dass ich (unbewusst) darauf hinarbeite, dass der Auftrag nicht zustande kommt. Diese Art von Blockade kann ich überwinden, indem ich mir den -> universellen Entwicklungskreislauf zunutze mache, und für die entsprechenden Voraussetzungen sorge, meine inneren Blockaden zu überwinden.

Wovon hängt unser subjektives Freiheitsgefühl ab?

Unser subjektives Gefühl von Freiheit (das, anders als die objektive Situation unserer tatsächlichen Möglichkeiten in jedem Moment, unser Erleben bestimmt) ist damit abhängig von sechs Faktoren:

  • Bin ich fähig und willens, in stimmigen Kontakt zu treten, um zu fühlen, was ich brauche/was für mich stimmig ist?
  • Kann ich verlässlich zwischen inneren und äußeren Blockaden unterscheiden? (Siehe auch -> Filter unserer Wahrnehmung)
  • Erkenne ich, welche äußeren Blockaden mich davon abhalten?
  • Finde ich Wege, wie ich diese äußeren Blockaden überwinden kann?
  • Erkenne ich, welche inneren Blockaden mich davon abhalten?
  • Finde ich Wege, wie ich diese inneren Blockaden überwinden kann?

Der Faktor Zeit

Wie wir an diesen Faktoren feststellen können, ist auch Zeit ein relevanter Faktor. Möglicherweise erkennen wir eine äußere Blockade, und auch einen Weg, wie wir sie überwinden können, aber der Prozess würde so lange dauern, dass wir die Möglichkeit von vornherein ausschließen (z.B. „ich bin doch schon zu alt, noch eine neue Ausbildung zu beginnen“).

Es ist auch durchaus legitim, sich gegen etwas zu entscheiden, wenn der Aufwand subjektiv betrachtet in keiner konstruktiven Relation zum erwarteten Nutzen steht. Solange man sich dabei im Sinne der radikalen Selbstverantwortung auch eingesteht, dass diese subjektive Unfreiheit die Konsequenz einer Entscheidung war, die man für sich getroffen hat. Denn dies bedeutet gleichzeitig auch, dass man die Macht behält, sich zu einem anderen Zeitpunkt anders zu entscheiden, anstatt sich selbst zum Opfer der Umstände zu machen.

Welche Art von Freiheit macht nun nachhaltig glücklich?

Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass nur eine subjektiv erlebte Freiheit, ein im-stimmigen-Kontakt-Sein mit sich und dem Rest der Welt nachhaltig glücklich machen kann. Oder anders ausgedrückt: frei fühlt sich derjenige, der nachhaltig tun und lassen, sagen und schweigen kann, was sich für ihn stimmig/richtig anfühlt.

Dies ist schwer quantifizierbar im Sinne eines „Mensch A ist freier als Mensch B“. Aber vielleicht ist dies ja auch gar nicht notwendig. Nur weil ich objektiv „freier“ bin als ein anderer Mensch, macht mich das ja nicht subjektiv glücklicher. Und da mein Erleben ja zutiefst subjektiv ist, ist es im Zweifelsfall ja dieses, was für mich relevant ist.

Welche Art von Freiheit macht Dich nachhaltig glücklich?

Niklas

P.S.: Ich möchte noch erwähnen, dass ich diesen Freiheitsbegriff nicht selbst entwickelt, sondern aus einem Buch übernommen habe. Ich würde an dieser Stelle gerne den Autor/den Titel des Buches anführen, auch um ihm für diesen Gedanken den Respekt und die Dankbarkeit zukommen zu lassen, die er verdient. Leider habe ich das Buch von einer Bekannten geborgt, die nun (aus Gründen, die sie mir nicht erklären wollte) nicht mehr mit mir spricht. Daher ist mir dies im Augenblick nicht möglich.

Gestern hielt ich im FreiRaumWels einen meiner Vorträge, „Führen zur Selbstverantwortung“. In einem Teil des Vortrages spreche ich auch über das „Lustige Fehlersuchen“, das ich vor einigen Jahren mal in einer VS-Klasse erfunden hatte, um den Schülern die Angst vor dem Fehlermachen zu nehmen. Wie so oft, kam mir dann, während ich darüber sprach, eine simple, aber doch sehr mächtige Erkenntnis über die Natur des Fehlers. Abends sah ich mir dann noch eine Dokumentation über das Leben des Buddhas an, und plötzlich passten viele Puzzle-Teile perfekt aufeinander. Die Erkenntnis will ich euch natürlich nicht vorenthalten…

Die relative Natur des Fehlers

Bevor er zum „ausgewachsenen“ Fehler wird, durchläuft er – bildlich gesprochen – mehrere Entwicklungsstufen. Er beginnt als Intention. Jemand hat die Absicht, etwas zu erreichen. Der nächste Schritt ist die Auswahl der vermutlich geeignetsten Handlungsweise. Diese muss nicht notwendigerweise bewusst stattfinden, sie kann beispielsweise auch aus Gewohnheit entstehen. Danach erfolgt die Umsetzung der Handlung, und schlussendlich die Bewertung der Konsequenzen nach den Kriterien der Intention. Habe ich mein Ziel erreicht? Gibt es eine Abweichung vom Ziel, und wenn ja, wie ausgeprägt ist diese Abweichung? Daraus ergibt sich, ob ich „richtig“ gehandelt habe, oder aber auch, wie dramatisch mein Fehler (meine Abweichung vom Ziel) war.

Im Alltag wird wohl kaum jegliche Intention und Handlung dermaßen genau durchdacht werden, stattdessen wird wohl viel unbewusst ablaufen. Diese sehr genaue Betrachtungsweise ermöglicht jedoch einige interessante Beobachtungen und Überlegungen über die Natur des Fehlers.

  1. Die Möglichkeit, einen „Fehler“ zu machen, entsteht erst durch die Beurteilung des Endergebnisses nach bestimmten Kriterien. Ohne diese (nicht notwendigerweise rationalen) Beurteilungskriterien würde es uns unmöglich sein, Fehler als solche überhaupt zu erkennen. Unsere Welt wäre gewissermaßen „Fehler-los“.
  2. Wir können Beurteilungskriterien vor, während oder/und nach der Handlung anwenden, und werden möglicherweise zu verschiedenen Bewertungen gelangen. Es könnte beispielsweise sein, dass wir während einer Handlung zur Bewertung „falsch“ kommen und daraufhin die Handlung abbrechen, obwohl das Endergebnis durchaus positiv für uns gewesen wäre.
  3. Unterschiedliche Menschen können unterschiedliche Bewertungskriterien für die gleichen Intentionen annehmen.
  4. Unterschiedliche Menschen können selbst bei übereinstimmenden Bewertungskriterien zu unterschiedlichen Bewertungen gelangen.
  5. Dies führt zur Frage: welchen Menschen übertragen wir die Macht über unser Handeln zu, zu bewerten, was ein „Fehler“ ist und was nicht? Warum genau diesen Menschen? Und warum tun wir das überhaupt?

All diese Überlegungen zeigen uns eines auf: Fehler sind etwas Relatives. Selbst die exakt gleiche Handlung zur Erreichung der exakt gleichen Intention mag von unterschiedlichen Menschen unterschiedlich als korrekt, als Fehler oder auch als große Innovation interpretiert werden.

Abweichung: Die gemeinsame Voraussetzung von Fehler und Innovation

Ein Fehler und eine Innovation sind in ihrem “Embryo-Stadium” noch kaum zu unterscheiden: beide stellen lediglich eine Abweichung von der erwarteten oder sonst üblichen Handlungsweise dar. Dazu ein sehr simples Beispiel aus der Welt der Sprache: meine Ex-Freundin schreibt – ebenso wie ich – sehr gerne, und sie hat ein Talent dafür, Wörter zu erfinden, die es „nicht gibt“, aber sich beim Lesen trotzdem stimmig anfühlen. Eines meiner Lieblingswörter, die sie erfunden hat, ist „Angefühl“, z.B. verwendet für „im Angefühl der Trennung“. Als strenger Lehrer, mit dem Wörterbuch als Kriterium an der Hand, mag man das Wort nun ähnlich rot markieren wie mein Schreibprogramm das gerade gemacht hat – für mich hingegen ist es eine wunderschöne neue Wortschöpfung, eine Innovation. Wer aber entscheidet jetzt darüber, ob aus einer Abweichung ein Fehler oder eine Innovation wird?

Suchen wir nach einer Antwort auf diese Frage, kommen wir kaum um die Frage nach Machtverhältnissen herum. Derjenige, von dessen Wohlwollen/Unterstützung ich abhängig bin, hat eine gewisse Macht, meine Handlungen in richtig/Falsch einzuteilen.

Das Interessante daran ist, dass diese Macht nicht aktiv ausgeübt werden muss, indem mir jemand ständig sagt, was ich nicht schon wieder falsch gemacht habe. Es reicht, wenn ich vermute, dass jemand, von dessen Unterstützung ich abhängig bin, mein Verhalten als fehlerhaft ansehen wird. Es entsteht gewissermaßen eine Art Internalisierung der Bewertung des anderen, die dann irgendwann unabhängig von den tatsächlichen Bewertungen des Anderen in mir abläuft. Die Relativität des Fehlers geht verloren, er wird zu einem absoluten Fehler.

In der Folge passiert noch etwas sehr Interessantes: der Zeitpunkt der Bewertung verschiebt sich nach vorne. Habe ich ursprünglich noch ergebnisoffen gehandelt, und ist mein Handeln danach als fehlerhaft (oder auch nicht) bewertet worden, so findet dieser (interne) Bewertungsprozess nun zunehmend bereits während der Handlung, und irgendwann auch schon vor der Handlung statt. Um das Risiko zu minimieren, negative Konsequenzen durch denjenigen erleben zu müssen, von dessen Unterstützung man abhängig ist, wird irgendwann jede Abweichung vom erfahrungsgemäß „richtigen“ (= keine negativen oder sogar positive Konsequenzen) Verhalten vermieden. Eine absolute innere Blockade wurde geboren: “Das ist nun mal einfach so.”

Innovation und Schaumamoi

In den im Nachhinein betrachtet bisher schönsten Jahren meines Lebens (auf deren Lebenseinstellung ich mich – hoffentlich – nun langsam wieder hinbewege) dominierte eine Grundformel meinen Alltag: „Schau ma moi, wos passiert“, also gewissermaßen eine radikale Neugier, die sich jeglicher Vor-Bewertung möglicher Folgen entzog. Nicht alle Konsequenzen meiner Handlungen waren positiv, manche waren durchaus auch negativ, aber selten in meinem Leben fühlte ich mich einerseits derart frei und andererseits derart glücklich.

Was ich meinen Schülern später über das „Lustige Fehlersuchen“ beibrachte, praktizierte ich damals tagtäglich selbst: ich tat, was sich richtig anfühlte, und sah mir am Ende – nicht ohne eine gewisse Neugier – an, was dabei rauskam. Oft kam ohnehin viel Gutes dabei raus, und wenn etwas nicht ideal gelaufen war, war das Ergebnis oft Grund zur Heiterkeit und Basis zahlreicher humorvoller Geschichten, die man miteinander teilen konnte.

Dieses Schaumamoi war möglicherweise der größte Schatz, den ich jemals besessen hatte. Jahre später, nach eingehender Beschäftigung mit allen möglichen religiösen Texten und vor allem auch östlicher Philosophie, finde ich ziemlich viel davon in buddhistischen Texten wieder, die von einem Loslassen der Anhaftung an gewünschte Folgen des eigenen Tuns sprechen. Sie sprechen nicht darüber, nichts mehr wollen zu dürfen, sondern darüber, sich von der Notwendigkeit zu lösen, dass dieses Wollen exakt so wie gewollt Realität wird. Gewissermaßen ein Handeln mit einem Schaumamoi, und am Ende einem wertneutralen Herausfinden, was denn nun tatsächlich geschehen ist. Nicht ein Ende des Tuns, sondern eine Reduzierung der Wichtigkeit der erwünschten Konsequenzen des Tuns. Was sich praktischerweise auch gut deckt mit den Lehren des Taoismus, mit denen ich mich oft sehr gut identifizieren kann.

Die Illusion der Beständigkeit

Ein Aspekt aus der östlichen Philosophie (woher exakt ich den nun habe ist mir entfallen, aber das Woher für mich auch irrelevant, solange das Was Sinn ergibt), der mir besonders gefällt, ist die Erkenntnis, dass alles gleichzeitig ewig und vergänglich ist. Es wird möglicherweise immer (oder zumindest noch für lange Zeit) Jahreszeiten geben, aber dieser Sommer für sich ist einzigartig, und dem Kreislauf von Entstehen/Vergehen unterworfen. In unserer Wahrnehmung wird es noch viele Montage geben, gewissermaßen ist “der Montag” als Konzept damit „ewig“, aber jeder Montag für sich ist einzigartig. Ich werde in meinem Leben wohl noch viele Menschen kennenlernen, und der Kontakt mit Menschen ist gewissermaßen ewig, weil immer wiederkehrend, aber die einzelnen Menschen und die einzelnen Begegnungen und Momente mit ihnen sind einzigartig. Damit ist gleichzeitig jeder Moment unendlich wertvoll, und ein möglicher Neuanfang, aber auch jeglichem Druck, etwas ganz Großes aus ihm zu machen, enthoben: er ist auch ewig, wiederkehrend. Ihn „verschwendet“ zu haben (der Bezug zum „Fehler“ mag hier auffallen) hat keine große Relevanz, weil er (in anderer Form) wiederkehren wird.

Es gibt damit unabhängig von der Situation, in der ich mich befinde, keinen Grund zur Hoffnungslosigkeit, weil jeder Moment die Chance eines radikalen (“radix” = Wurzel) Neuanfangs in sich birgt. Ich kann in jedem Moment einfach aufstehen, aus dem Haus gehen, und ein völlig neues Leben beginnen – wenn ich bereit bin, die Konsequenzen zu ertragen. Meine Anhaftungen (=Fixierung auf erwünschte Konsequenzen meiner Handlungen) sind somit meine einzigen realen Blockaden meiner absoluten Freiheit.

Ein Schlüssel zur Überwindung der Angst vor dem Fehler

In Bezug auf unser Thema des Fehlers ist das Durchschauen dieser Illusion der Beständigkeit ein möglicher Schlüssel zur Überwindung der Angst vor dem Fehler. Denn eine Vor-Bewertung oder Während-Bewertung einer Handlung macht nur dann Sinn, wenn wir das Endergebnis verlässlich vorhersagen können. Wäre die Welt beständig und keinem Wandel unterworfen, so würde eine solche Vorhersage tatsächlich immer Nutzen bringen, weil wir damit die Welt und ihre Wirkungsgesetze zunehmend besser verstehen könnten.

Da sich die Welt trotz ihres ewigen Aspekts aber auch stets im Wandel befindet, ist eine Vor- oder Während-Beurteilung eine Verkennung der Realität, eine gewissermaßen selbst auferlegte Machtlosigkeit. Wir gehen davon aus, dass unser Verhalten, oft genug als „Fehler“ rückgemeldet, gewissermaßen „absolut“ ein Fehler sein muss, und versuchen dann, diese Fehler von vornherein zu vermeiden, um damit die Konsequenzen, die wir fürchten, zu vermeiden – bis wir uns irgendwann möglicherweise kaum mehr erinnern können, wie wir überhaupt zu dem Schluss gekommen sind, dass ein Verhalten „falsch“ sein müsse.

Das Problem dabei ist (neben vielen anderen), dass Fehler, wie eingangs erwähnt, im Grunde immer nur relativ, nur situativ als solche bewertet werden können. Was unsere Eltern uns, als wir Kinder waren, als „falsch“ eingetrichtert haben, mag für damals durchaus hilfreich und sinnvoll gewesen sein, aber ist es das nun als Erwachsener immer noch? Oder vielleicht war es auch damals schon nicht konstruktiv, aber wir waren als Kinder eben zu abhängig von den Eltern, um widersprechen zu können – aber sind wir das immer noch?

Das Gefängnis der Erwartungen

Vermutlich haben wir uns alle im Laufe unseres Lebens ein gewisses Maß an Erwartungshaltungen von richtig/falsch angeeignet, die von unseren Abhängigkeitsverhältnissen geprägt sind. Das ist nicht zwingend etwas Negatives, war wohl oft auch notwendige Überlebens-Strategie

Dort jedoch, wo wir zu erahnen beginnen, dass wir uns dadurch selbst blockieren, mag die Frage sinnvoll sein, wer im Bereich dieser Blockaden die Hoheit über die Bewertung besitzt: wir selbst, die wir uns durchaus auch bewusst für ein Schaumamoi entscheiden können, um herauszufinden, welche Handlungen sich für uns stimmig anfühlen? Oder vielmehr jemand, von dem wir glauben, abhängig zu sein, und von dem wir glauben, dass er bestimmte Verhaltensweisen wünscht oder ablehnt? Im letzteren Fall steht uns – zumindest als Erwachsenen – die Möglichkeit offen, mit den betroffenen Personen offen über ihre tatsächlichen Bedürfnisse zu kommunizieren, anstatt unseren Verhaltens-Spielraum möglicherweise unnötigerweise weiter basierend auf Annahmen einzuschränken. Oft haben sich diese im Laufe der Zeit verändert, oder wir haben sie von vornherein nicht treffend interpretiert. Oder aber die (erlebte) Abhängigkeit von den betroffenen Personen kann reduziert werden, etwa indem man sich einen neuen/zusätzlichen Arbeitgeber sucht, oder weitere Freunde kennenlernt, um die Abhängigkeit von den Meinungen des besten Freundes zu reduzieren. Vielleicht auch einen Konflikt wagt, und feststellt, dass sich die Machtverhältnisse mit der Zeit verändert haben.

Diese Überlegungen erinnern mich ein bisschen an ein sehr schönes Bild, das mein Tai Chi Lehrer René oft benutzt hat. Er ließ sich von einem Freiwilligen an den Handgelenkten fassen, und zeigte, wie verkrampft jemand dabei werden konnte, weil er glaubte, nun „gefangen“ zu sein. Entspannte er seinen Körper, so konnte er wunderbar vorzeigen, so war er im Grunde überhaupt nicht gefangen, konnte sich immer noch sehr frei umherbewegen, oder je nach Wunsch auch denjenigen, der ihn an den Handgelenken packte, gerade aufgrund der dadurch entstandenen Verbindung seinerseits kontrollieren. Die Verkrampfung in solch einer Situation ist eine automatische Reflexhandlung, die uns das Gefühl gibt, unfrei zu sein. Bewusstes Entspannen und Zulassen können zeigt auf, welche Freiheiten wir eigentlich trotz aller angeblichen “Einschränkungen” haben.

Da unsere Erwartungen, unsere – ähnlich reflexartige – Angewohnheit, Bewertungen schon vor oder während einer Handlung vorzunehmen, um negative Konsequenzen seitens denen, von denen wir uns abhängig glauben, zu vermeiden, gewissermaßen „in uns“ stattfindet, können wir sie auch aktiv beeinflussen. Mein „Meditationswort“ dafür ist dieses irgendwann entstandene „Schau ma moi, wos passiert“, aber im Grunde braucht es das nicht – ich finde es nur lustig (Humor hilft definitiv!), und es versetzt mich recht zuverlässig zurück in jene Zeit, in der ich diese Praxis ganz natürlich sehr meisterhaft beherrscht habe.

Warum ich sie überhaupt ein Stück weit verlernt habe? Nun, der Einstieg ins „echte“ Berufsleben war sicher ein Faktor. Vielleicht musste ich sie auch erst verlernen, dann mühsam neu erlernen, um sie auch anderen vermitteln zu können, die nicht diese natürlich entstandene Vorerfahrung mitbringen, wer weiß?

Niklas

P.S.: Einige Ankündigungen, genaueres dazu gibts wie gewohnt unter Vorträge/Workshops

  • Nächste Woche Montags, 19:00, gibt’s im FreiRaumWels den dritten Vortrag meiner kleinen Vortragsreihe. Diesmal geht’s um Familien- und Rechts-Systeme: systemische Ursachen der Entstehung von Mobbing und totalitären Systemen (die sich interessanterweise sehr ähneln), und auch, was das für unsere aktuelle politisch-gesellschaftliche Situation in Österreich bedeuten mag.
  • Das Konzept dazu steht noch nicht ganz konkret, aber ich werde wohl in Wels eine Art “Filiale” vom Tai Chi Kurs meines Lehrers René aufbauen, nachdem mir einige rückgemeldet haben, sie hätten Interesse, wollen aber nicht nach Braunau fahren deswegen. Hab mir mal gesagt, bei 3 Interessenten würd ich das machen, 2 haben sich schon gemeldet. Wir wohl kein reiner Tai Chi-Kurs werden, sondern ähnlich wie bei René’s Kurs auch viele Aspekte wie Auflösung von Blockaden, Entspannung, Philosophie dahinter etc. werden. Genauere Infos folgen wie gewöhnt unter Vorträge/Workshops, bei grundsätzlichem Interesse wär eine Vormerkung bei mir sinnvoll, dann kann ich das besser planen, bzw. vielleicht auch mögliche Termine so abstimmen, dass möglichst viele Interessenten Zeit dafür finden können.
  • Unsere ResonanzWörter-Übungsgruppe Öffentliches Sprechen jeweils Sonntags, 18:00 im FreiRaumWels wird langsam eine beständigere Gruppe, jetzt waren wir schon 2x zu viert, das zählt dann schon fast als „Öffentlichkeit“. Wer Lust hat mal vorbeizuschauen, sehr gerne, ist auch echt immer sehr spaßig gewesen bisher. Da das Zusammentreffen ausfällt, falls nicht genug Besucher zusammenkommen, bitte bei Interesse bei mir (per SMS z.B.) melden, damit ich bei Nicht-Zustandekommen auch absagen kann, sonst steht wer vor verschlossener Tür, das wär schade 😉

Vor einigen Tagen hörte ich einigen Menschen zu, die über ein muslimisches Mädchen mit Kopftuch diskutierten und wie ihm zu helfen sei, mehr persönliche Freiheit zu erlangen. Es wurden einige interessante Argumente angeführt (etwa, dass ein muslimisches Jugendangebot bzw. das Tragen des Kopftuches für ein muslimisches Mädchen ein Mehr an Freiheit bedeuten kann, weil es sich damit außerhalb des Familiensystems bewegen kann), es kam allerdings auch zum Ausdruck, dass es oft eben leider nicht gelänge, besagten Menschen zu mehr persönlicher Freiheit zu verhelfen. Und während ich weiter zuhörte, kam mir ein interessanter Gedanke: die Familie ist – vor allem in eher traditionell angehauchteren Familien – ein weitgehend geschlossenes Macht-System.

Das Phänomen des leeren Blickes

Um zu erklären, was ich damit meine, muss ich an dieser Stelle ein wenig weiter ausholen. Ich unterhalte mich sehr gerne mit Zeugen Jevovas oder anderen Vertretern der Straßenbekehrer, weil ich – wenn ich nicht gerade in Eile bin – mich sehr für verschiedene Perspektiven zum Thema Glauben und Leben allgemein interessiere. Mit der Zeit ist mir jedoch aufgefallen, dass meine Gesprächspartner unter den Straßenbekehrern oftmals Menschen sind, die oft gar nicht so viel über die – angeblichen – Grundlagen ihres jeweiligen Glaubens (also Bibel, Koran, …) zu wissen scheinen, sollten sie auf jemanden wie mich treffen, der die jeweiligen Werke interessiert gelesen hat und vertiefte Fragen zu stellen weiß.

Wirklich interessant wird es für mich jedoch, wenn ich anfange, ihnen gewisse Fragen zu stellen, die geeignet wären, ihren (oft sonderbar oberflächlich wirkenden) Glauben zu erschüttern, die beispielsweise Widersprüche in den Texten behandeln. Dann habe ich bereits mehrmals ein Phänomen beobachtet, dass ich für mich das „Phänomen des leeren Blickes“ nenne: jemand scheint mich gar nicht mehr hören zu können, sobald ich gewisse Aspekte anspreche. Wechsle ich zurück auf ein „einfacheres“ Thema, läuft das Gespräch wie gehabt weiter, als würde meinem Gesprächspartner gar nicht auffallen, was gerade Seltsames geschehen ist.

Mit der Zeit habe ich dazu für mich die Hypothese entwickelt, dass ich – mehr oder weniger zufällig – mit meinen Fragen die Aspekte des Glaubens des Anderen berührt oder in Frage gestellt habe, die die Grundfesten ausmachen, jene, die er nicht hinterfragen kann, weil er dafür seinen Glauben gewissermaßen von außen betrachten müsste, und dazu ist er (noch) nicht bereit oder fähig.

Ursachen des Phänomens

Ich habe mich bereits wiederholt gefragt, warum diese an sich sehr intelligent und wissbegierig wirkenden Menschen offenbar an einigen „wunden Punkten“ nicht fähig oder willig scheinen, sich bzw. ihren Glauben „von außen“ zu betrachten, und meine derzeitige „Arbeitshypothese“ läuft daraus hinauf, dass sie sich durch ein Hinterfragen „von außen“ eben auch außerhalb der hinterfragten Gruppe oder Gruppen-Identität stellen, und dass die Konsequenzen dieser potentiellen Trennung untragbar erscheinen. Derjenige, der nicht wagt, bestimmte Aspekte seines Seins oder Tuns zu hinterfragen, befindet sich damit in Abhängigkeit der Gruppen, als deren Teil er diesen Aspekt aufrechterhält.

Weil dies sehr abstrakt formuliert ist, ein einfaches Beispiel: das 12-jährige Mädchen, das auf Wunsch ihrer Familie oder ihrer Glaubensrichtung Kopftuch trägt, ist faktisch von seiner Familie abhängig. Es darf in Österreich als zu junge Jugendliche noch nicht arbeiten, was eine gewisse physisch/finanzielle Abhängigkeit zur Familie bedingt, zudem ist es emotional, sozial und in seiner Identität wahrscheinlich noch nicht fähig, unabhängig von ihrer Familie zu leben, was bedeutet, dass ihre Familie (als der Gruppe, von der sie abhängig ist) die Grenzen ihrer Freiräume definiert. Selbst wenn ihre generelle Glaubensrichtung in Österreich kaum reelle Macht besitzt und sie nicht zum Tragen des Kopftuches zwingen kann, kann ihre Familie es tun, wenn sie glaubt, dass dies aus religiösen Gründen richtig ist, oder auch einfach aus dem Grund, weil es der Familie so recht oder bequem ist. Es wird ihr nichts nützen, wenn in Österreich das Recht der Frau auf Selbstbestimmung in der Verfassung steht. Solange sie sich in direkter Abhängigkeit zu anderen Mächten befindet, haben diese anderen Mächte Vorrang.

Trifft dieses Mädchen nun eine engagierte Sozialarbeiterin oder Freundin oder wen auch immer, die es ihr ermöglicht, auch andere Möglichkeiten für sich erträumen zu können, bricht dieser Akt der Unterstützung zwar einen Teil der Abhängigkeit auf, vor allem den emotionalen und sozialen, indem das „Monopol“ der Familie aufgebrochen wird – aber wie oft wird es vorkommen, dass das Mädchen in die Lage versetzt wird, sich auch finanziell/physisch aus ihrer Abhängigkeit lösen zu können? Zudem: wie stark darf es darauf vertrauen, dass diese Unterstützung von außerhalb der Familie auch verlässlich aufrechterhalten wird? Wird die Sozialarbeiterin auch in zwei Jahren noch an ihrer Seite sein? Wird die staatliche Unterstützung weiter ausbezahlt werden, wird sie (falls sie schon etwas älter ist und sich traut, gegen den Willen der Familie einen Job anzunehmen) den Job behalten, die Unabhängigkeit von der Familie dauerhaft aufrechterhalten können?

Das Beispiel des 12-jährigen muslimischen Mädchens ist plakativ gewählt. Im Grunde geht das Phänomen jedoch noch viel weiter. Abseits der medialen Aufmerksamkeit betrifft es im Grunde einen jeden Menschen, ist er hier geboren oder nicht, ist er 6, 12, 18 oder 53: worin besteht meine Abhängigkeit, steht sie mir im Weg, und: kann bzw. wie kann ich sie überwinden? Abhängigkeit an sich muss nicht per se problematisch sein, kann auch eine Art von Geborgenheit bedeuten. Das Problem entsteht dort, wo notwendige Entwicklungen und Ablösungsprozesse nicht durchgemacht werden können – und abstrakt formuliert ist damit immer dann zu rechnen, wenn geschlossene Systeme von Macht und Abhängigkeit in Form eines Monopols auftreten.

In dem Sinne halte ich es für sehr interessant, wenn es Migranten möglichst schwer gemacht werden soll, Arbeit zu finden, obwohl Arbeit zu finden und damit Denk-, Rede- wie Handlungsmöglichkeiten für die Arbeitenden zu erweitern womöglich der rascheste Weg wäre, problematische traditionelle/familiäre Machtstrukturen zu durchbrechen. Denn wer physisch/finanziell direkt abhängig ist von einem autoritären Familienoberhaupt, der mag sich trauen, selbstständig zu denken, aber dem Oberhaupt zu widersprechen oder gar ihm zuwiderhandeln, dazu muss derjenige schon großen Mut besitzen.

„Größere“ geschlossene Macht-Systeme

Ich habe in diesem Artikel bisher weitgehend familiäre Macht-Systeme beschrieben, aber im Grunde lassen sich die beschriebenen Phänomene auch gut auf größere Systeme umlegen, seien es Glaubens-Systeme oder auch Gesellschafts-Systeme. Vor gar nicht allzu langer Zeit war es auch bei uns lebensgefährlich, gewissen Glaubens-Dogmen öffentlich zu widersprechen. Offene Kritik am herrschenden Gesellschafts- wie Wirtschaftssystem ist zwar an sich hier in Österreich durchaus „erlaubt“ und sogar ganz gern gesehen, allerdings interessanterweise innerhalb gewisser Grenzen, ab denen wiederum das Phänomen des leeren Blicks anzutreffen ist. Es ist beispielsweise für den Großteil meiner Bekannten durchaus akzeptabel, Gehälter zwischen 1000 und 3000-4000 Euro zu verdienen, sich vorzustellen, 10000 Euro im Monat zu verdienen (unabhängig davon, ob die eigene Leistung es rechtfertigen würde), fällt den meisten der von mir dazu Befragten jedoch wiederum schwierig. Oder sich zu fragen, ob man „Leistung“ denn überhaupt mit Hilfe von Geld „messen“ kann und ob es damit überhaupt so etwas wie eine „gerechte“ Bezahlung geben kann.

Aus der Perspektive geschlossener sowie offener Macht-Systeme (offen = kein strenges Monopol auf Abhängigkeiten) heraus entstehen einige interessante Parallelen zwischen aktuellen Diskussionen und geschichtlicher Entwicklungslinien. Etwa die kontroverse Bibel-Übersetzung durch bzw. um Martin Luther hier in Europa und der Annahme, man könne den Qu’ran nur im Original, auf Arabisch verstehen, und auch nur dann, wenn man genügend gelehrt sei (wobei fraglich ist, wer aus welchen Gründen bestimmen darf und bestimmt, wer denn als „gelehrt“ bzw. „gläubig“ gelte).

Ist die oben beschriebene Perspektive der geschlossenen Macht-Systeme korrekt, so geht es am Kern-Problem vorbei, Menschen anderen Glaubens (oder anderer Tradition, anderer Ideologie im Allgemeinen) davon überzeugen zu wollen, dass die eigene Ansicht die (für alle Beteiligten) sinnvollere sei, weil der andere – solange er sich in existenzieller Abhängigkeit befindet – mir gar nicht folgen kann. Die Frage wird vielmehr, wie es möglich sein kann, einem jeden Menschen eine Existenzform zu ermöglichen, die es ihm ermöglicht, sich aus ehemals geschlossenen Macht-Systemen zu befreien, wie es also möglich ist, diese geschlossenen Macht-Systeme aufzubrechen, Alternativen zu schaffen, ohne notwendigerweise das Herkunfts-System und möglicherweise wertvoller Teilaspekte desselben gleich mitzuzerstören.

Erst wenn diese Voraussetzungen geschaffen sind, mein Gesprächspartner also nicht nur frei denken, sondern auch frei sprechen und handeln kann, wird eine Diskussion mehr als ein Monolog sein können.

Niklas

Die folgenden vier Schritte sind nicht als mechanische Struktur zu sehen, die abzuarbeiten ist, sondern vielmehr als Leitfaden, welche Aspekte zwischenmenschlicher Kommunikation sich für mich als hilfreich herausgestellt haben. In manchen Gesprächen mag sich die Reihenfolge umkehren, oder einzelne Schritte stellen sich als unnötig heraus. Nichtsdestotrotz stellt die Reihenfolge einen gewissen aufeinander aufbauenden Ablauf dar, der sinnvoll sein kann. Sinn und Zweck dieses Artikels soll es nicht sein, eine erschöpfende Handlungsanweisung für problemlösende Kommunikation zu liefern – dazu gehört mehr, als einen Artikel zu lesen: Achtsamkeit, Übung, Erfahrung, und das Finden der eigenen passenden Worte. Vielleicht kann dieser Artikel jedoch als Startpunkt einer Reise fungieren, indem er auf interessante Orte auf dem Weg hinweist, die es sich zu betrachten lohnt.

  1. Eigene mentale/emotionale Offenheit bewerten

Der erste, sehr wichtige Schritt für eine heilende Kommunikation, die eine gewisse Tiefe erreichen kann, ist sich die Frage zu stellen, ob ich mich gerade überhaupt bereit dazu fühle. Wenn ich mit meinem Gesprächspartner in meine oder seine Tiefen eintauche, brauche ich in mir Platz für das, was wir gemeinsam dort finden könnten. Dies ist schwer möglich, wenn ich weiß, dass ich in drei Minuten meinen Bus erwischen muss, oder mit meinen eigenen Gedanken so beschäftigt bin, dass in mir kein Platz für Unvorhergesehenes mehr ist. Was in solchen Situationen üblicherweise passiert, ist ein stillschweigendes Ignorieren des Anliegens des Anderen, um sich auf die eigene Sache konzentrieren zu können. Oder jemand scheint auf den Anderen einzugehen, ist im Kopf jedoch schon bei dem Bus, den er erreichen soll, und ärgert sich, dass der andere das nicht verstehen will (üblicherweise ohne ihn darauf hinzuweisen).

Was sich in solchen Situationen als für mich hilfreich herausgestellt hat, ist mir für einen kurzen Moment klar zu werden, ob ich gerade genug Aufmerksamkeit für ein tiefes Gespräch habe oder nicht. Ist dies der Fall, kann ich mich darauf einlassen und alles andere hintanstellen. Bin ich in Wahrheit zu sehr in meiner eigenen Welt, um in mir Platz für Tiefe zu finden, kann ich das offen sagen. Wenn ich merke, dass mein Gesprächspartner ein großes Bedürfnis nach meiner Aufmerksamkeit hat, kann ich vorschlagen, eine Zeit zu finden, zu der ich mich voll seinem Anliegen widmen kann. Damit kann er sich in seinem Bedürfnis nach Kommunikation gehört fühlen und sich sicher sein, dass ich ihm meine Aufmerksamkeit tatsächlich schenken will. Natürlich ist es dann auch wichtig, mich an diese „Verabredung“ zu halten, damit mein Gesprächspartner nicht das Gefühl bekommt, ich wolle ihn nur abwimmeln.

Nun kann es vorkommen, dass ich tatsächlich keine Lust habe, mich mit manchen Menschen zu unterhalten, sie also tatsächlich „abwimmeln“ möchte. Das passiert mir häufig mit jenen (meist jungen) Menschen, die mich auf der Straße ansprechen, um mir Spenden-Abos diverser wohltätiger Vereine „verkaufen“ wollen. Viele Menschen greifen in solchen Situationen gerne zu kleinen „Notlügen“ wie „Ich bin bereits Spender“ oder „Ich muss in 2 Minuten meinen Zug erwischen und habe leider keine Zeit“, weil jene „Verkäufer“ von Spendenangeboten geübt darin sind, den anderen dazu zu bringen, sich schuldig zu fühlen, weil man nicht bereit ist, 10 Euro pro Monat für arme Kinder/den Regenwald/… zu spenden. Im Grunde sind die Zusammentreffen mit jenen Menschen wunderbare Möglichkeiten, den ersten Schritt zu üben. Die meisten von uns sind es gewohnt, „gut“ sein zu wollen, selbst wenn es über unsere Kapazitäten geht, und sowohl Spenden-Verkäufer wie auch Freunde/Bekannte/Fremde in Not spielen üblicherweise auf dieser Klaviatur.

Das Problem dabei ist, dass es für den Spenden-Verkäufer und seine Organisation zwar kurzfristig gut ist, wenn er mich dazu bringt, monatlich 10 Euro zu spenden, nur wenn ich dabei über meine Kapazitäten gehe (finanziell, mental oder emotional im Gespräch selbst) werde ich es später eher bereuen und in Zukunft weniger gewillt sein, mich auf ähnliche Gespräche einzulassen. Menschen tendieren dann dazu, die Schuld für die eigene Überforderung demjenigen zuzuschieben, der sie ausgelöst hat, obwohl die Ursache in ihnen selbst und ihrem Verhalten liegt. Ich kann einem überfallsartigem Erscheinen eines Spendenverkäufers auch begegnen, indem ich ihm von Anfang an klar erkläre, dass nichts, was er sagt, mich dazu bringen wird, ihm hier und jetzt ein Spenden-Abo abzukaufen, aber ich mir gerne 15 Minuten Zeit nehme, mit ihm über die Organisation zu sprechen. Üblicherweise trennt dies als angenehmer Nebeneffekt auch jene, die wirklich hinter ihrer Organisation stehen von jenen, die diese Arbeit für die Provision machen.

  1. Emotionale Resonanz herstellen

Ist eine gewisse Offenheit für Tiefe vorhanden, kann es möglich sein, in emotionale Resonanz zu gehen: ich fühle, was der andere fühlt, und er fühlt, was ich fühle, sehr direkt und unmittelbar. Ich muss dazu nicht wissen, was seine konkreten Gründe und Erfahrungen sind, diese Art der Kommunikation verläuft auf rein emotionaler Ebene. Über die konkrete Situation zu sprechen kann allerdings helfen, dem Gesprächspartner ein exakteres Bild von den davon ausgelösten Emotionen zu schaffen. Ist diese emotionale Resonanz erreicht, sind oft nicht viele Worte notwendig, um ein tiefes Gefühl von Berührt-Sein auszulösen. Es ist der Zustand der Ergriffenheit, der auch manchmal entsteht, wenn man besondere Lieder hört, Texte liest, Bilder oder Filme ansieht.

Es fühlt sich an, als finde man sich im Gegenüber wieder, und der Gesprächspartner fühlt sich wirklich verstanden, unabhängig davon, ob man die konkrete Situation überhaupt verstanden hat. Es geht in der emotionalen Resonanz überhaupt nicht darum, ob ein Gefühl in Umständen begründet oder der Zusammenhang zwischen Situation und Emotion nachvollziehbar ist, sondern rein um das wertfreie Nachvollziehen der Gefühle des Anderen und deren Intensität. Diese „Technik“, die offenbar vor allem Frauen intuitiv anwenden, kann oft schon ausreichen, um sich besser, verstandener zu fühlen.

Emotionale Resonanz alleine kann jedoch auch zu einer Art „Falle“ werden. Sie erhöht die Kapazität des Gesprächspartners, mit einer Situation umzugehen, verringert damit aber auch die Chance, dass dieser aktiv wird, um etwas an den auslösenden Strukturen zu verändern. Hier kommt Schritt 3 ins Spiel.

  1. Konkrete Situation nachvollziehen

Wir haben es nun geschafft, emotionale Resonanz herzustellen und die Tragweite der Gefühle unseres Gesprächspartners zu erahnen. Über die auslösenden Umstände wissen wir bisher jedoch nur sehr wenig: Verständnisfragen können uns helfen, uns auch konkret in die Situation des Gegenübers hineinzudenken. In der vertrauensvollen Atmosphäre, die Schritt 2 uns ermöglich hat, können wir nun auch „schwierige“ Fragen stellen, wenn wir es schaffen, sie nicht als versteckte Bewertung sondern als tatsächliche Neugier zu vermitteln. Diese „schwierigen“ Fragen alleine können eine als unlösbares Problem wahrgenommene Situation hinterfragen, ins Wanken bringen. Das Schönste, was mir mit einem scheinbar unlösbaren Problem passieren kann, ist wenn ich feststelle, dass Teile der Fakten, die das Problem darstellen, vielleicht in Wahrheit nur Annahmen sind.

Neugier braucht jedoch Zeit und inneren Raum, Antworten aufnehmen zu können. Auch für diesen Schritt ist es wichtig, in Schritt 1 gut auf sich geachtet zu haben. Unter (Zeit-)Druck steigt die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass die Neugier, mit der Fragen gestellt werden, in vorgefasste Bewertungen umschlägt. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob ich meinen Gesprächspartner frage, was ein anderer Mensch in einer Situation wohl alles mit seiner Aussage gemeint haben könnte oder ob ich ihm sage, ich glaube, er hat X gemeint.

Wichtig zu beachten ist bei diesem Schritt auch, dass meine Kommunikation rein auf neugierigen Fragen basiert und ich (noch) keinen Rat gebe. Durch die Enttarnung mancher problematischen „Fakten“ als bloße Annahmen gebe ich meinem Gesprächspartner bereits die Chance, auch ohne meine Hilfe zu eigenen Lösungen zu gelangen.

  1. Rat anbieten

Nun haben wir emotionale Resonanz hergestellt und sind durch neugieriges Nachfragen gemeinsam zu einem ungefähren Bild der konkreten Situation gelangt. Durch die Enttarnung mancher „Fakten“ als Annahmen ist möglicherweise eine noch komplexere Situation entstanden, die zwar kein unlösbares Problem mehr darstellt, aber immer noch eine Überforderung. Ich kann nun anbieten, einen Rat zu geben, wenn mein Gesprächspartner dies möchte (wenn die Schritte 1-3 gut gelaufen sind, wird er an dieser Stelle oftmals sogar selbst darum bitten). Wichtig dabei erscheint es mir, den Rat auf eine Weise zu geben, der ihn als Option erscheinen lässt, nicht als einzig möglichen Weg. Ob mein Gesprächspartner den Rat annehmen möchte (oder überhaupt einen hören will) bleibt ihm überlassen. Es handelt sich um ein Geschenk, aus freien Stücken gegeben, aus freien Stücken ablehnbar. Die Verantwortung (und damit die Entscheidung) über den tatsächlich zu wählenden Weg bleibt bei dem, der auch tatsächlich handeln muss.

Das Problem mit „guten Ratschlägen“ (Männer sind hier besonders gefährdet) ist, dass sie oft angeboten werden, ohne vorher in emotionaler Resonanz gewesen zu sein und überhaupt das konkrete Problem verstanden zu haben. Der Rat ist damit zwar oft gut gemeint, aber leider dann unpassend für die tatsächliche Situation und tatsächliche Betroffenheit des Gesprächspartners.

Selbstverantwortung nachhaltig fördern

Wer die obigen Zeilen aufmerksam gelesen hat, wird feststellen, dass alle vier Schritte stark auf dem Prinzip aufbauen, die Selbstverantwortung beider Gesprächspartner zu fördern, anstatt gegenseitige Abhängigkeiten aufzubauen. Das mag dem eigenen Ego nicht unbedingt schmeicheln, das gerne gute Ratschläge geben und sich dafür geachtet fühlen möchte. Aber ich glaube, dass sowohl der Hilfesuchende als auch der Hilfegebende auf Dauer glücklicher ist, wenn beide sich bei Bedarf freiwillig auf problemlösende Kommunikation einlassen können anstatt in einer Abhängigkeitsbeziehung zueinander zu stehen, die beide Seiten in ihrer Autonomie einschränkt.

Was ich hier beschrieben habe, basiert hauptsächlich auf meinen Erfahrungen mit Erwachsenen, lässt sich aber zum größten Teil auch mit Jugendlichen und Kindern anwenden. Alleine wenn Erwachsene lernen, gegenüber Kindern den ersten Schritt mehr zu beachten, ist schon viel erreicht.

Niklas

P.S.: Vor allem an meine Viel-Leser: ich habe möglicherweise in den nächsten Tagen und Wochen die Möglichkeit, für ein Magazin für Lehrer Artikel zu verfassen, und habe mich gefragt, welche Themen sich wohl dafür am besten eignen bzw. möglichst viele (Regelschul-)Lehrer interessieren könnten. Falls jemand einen Tipp dazu hat, bin ich für jeden Ratschlag dankbar. Danke!

Weißer Sandstrand. Palmen, mit einer Hängematte dazwischen. Wolkenloser Himmel, wolkenloses Leben. Sogar das türkisblaue Meer ist ruhig. Nichts, was die Idylle stören kann. „Da möchte ich hin“, steht in großen, roten Lettern auf dem Plakat des Reisebüros. Ja, dachte er, da möchte ich hin. Das musste ein Leben sein! Auf ‘ner Hängematte, irgendwo im Süden, mit einem guten Buch, ‘nem Drink und das Leben so einfach zu schaukeln wie die Hängematte, in der man sich befand. Das war ein Leben! Und er, wie immer, nur vor einem Abbild eines Lebens stehend, das er gerne gelebt hätte. Schön, wenn man klar sehen konnte, was man zum Glück brauchte. 1569 Euro. Hin und zurück. Wobei er ja nur den Hinflug brauchte. Wer wollte schon zurück in diese Betonwüste, in der er dahinvegetierte, wenn er Palmen und Strände haben konnte?

Er wusste, er hatte das Geld nicht. Einen Job hatte er, in dem er angeblich ganz gut verdienen sollte, aber Geld? Jeden Monat wurde ihm eine bestimmte Zahl auf einem Konto gutgeschrieben, und er hatte nicht das Gefühl, auf großem Fuß zu leben, aber im Grunde blieb am Ende selten etwas übrig. Sein ganzes Leben hatte er Geld, aber immer nur gehabt. Es waren die kleinen Preise, die ihn um das große Geld brachten, hatte ihm seine Großmutter mal zu erklären versucht, aber wie konnte man sie dann als „klein“ bezeichnen? Das war doch sicher Betrug, und offen zu betrügen, das konnte sich wohl kein Unternehmen auf Dauer leisten. Trotzdem, es war wie verhext: nach jeder Gehaltserhöhung blieb am Ende des Monats doch wieder nur derselbe traurige Restbetrag übrig. Definitiv keine 1569 Euro. Man mochte so vieles, und hatte doch nur so wenig Geld…

Doch der Wunsch blieb. Da möchte ich hin, rumorte es in seinem Kopf, bis er realisierte, dass ihn hier und jetzt nichts hielt und dass es keinen Sinn hatte, zu warten. Auch in einem Jahr würde er keine 1569 Euro zusammengespart haben. Aber er hatte eine Kreditkarte und einen Kreditrahmen. Das sollte reichen. Rasch, bevor seine eingefahrenen Gewohnheiten ihn stoppen konnten, tippte er die Nummer des Reisebüros ein, die auf dem Plakat abgedruckt war. Zwölf Minuten später war das Geschäft perfekt. In drei Wochen würde er fliegen. Zwei Wochen Mittelamerika. Mit seinen bald 35 Jahren war es an der Zeit, das tun zu können, was man wollte. Auch wenn es sich nur um Urlaub süßes Nichtstun am Strand handelte.

Dort angekommen, stellte er seine Sachen im Apartment ab, nahm ein Buch aus seiner Reisebibliothek und ließ sich in eine der bereitgestellten Hängematten plumpsen. Es war tatsächlich wie auf dem Plakat – von einer bestimmten Perspektive aus betrachtet. Von so ziemlich allen anderen Perspektiven aus war dieser Ort wohl einst wunderschön gewesen, man mochte sich frei gefühlt haben. Aber das musste lange her gewesen sein. Nun war alles perfekt durchdesignt, der Tagesablauf vorgeschlagen und man bekam beinahe ein schlechtes Gewissen, wenn man die Angebote des Veranstalters nicht annahm. Die Einheimischen, wohl auf Leistungsbasis bezahlt und auf entspannungshungrige Erlebnistouristen trainiert, hatten diese traurigen Augen… rund um seine Hängematte begannen nun weitere Touristen mit ihren täglichen angeleiteten „Wellness-Übungen“, die auf ihn irgendwie nicht sonderlich entspannend wirkten. Es war schwer, sich auf sein Buch zu konzentrieren, wenn neben einem ständig wer auf seinem Wellness-Trip vorbeischlauchte.

Aber im Grunde lag es nicht an den anderen. Was ihn nervte, nervte ihn an ihm selbst: warum war er hier? Sein Buch lesen konnte er auch zuhause. Eine Hängematte kostete ihn einige Zehner, und Bäume gab es auch zuhause genug. Warum also war er hier? Hier möchte ich sein, hatte er sich gedacht, aber war es dabei wirklich um diesen oder überhaupt irgendeinen Ort gegangen? Nein, stellte er nun fest. Es ihm um das Gefühl gegangen, im Urlaub zu sein. Doch was bedeutete „Urlaub“ eigentlich für ihn? Sich umsehend, die sich immer noch abstrampelnden Touristen um ihn leicht irritiert betrachtend, wusste er, dass das Gefühl unabhängig von einem Ort sein musste. Dieser Ort löste es zumindest nicht aus. Aber was dann? Und dann erinnerte er sich an das letzte Mal, als er sich verliebt gefühlt hatte. Das war lange her. Doch ja, damals hatte er sich frei gefühlt. Urlaub, das war wohl sowas wie Freiheit mit einem Anfang und einem Ende.

Plötzlich musste er laut lachen. Was nun ihrerseits die Touristen, die um seine Hängematte ihre Wellness-Übungen absolvierten, irritierte. Fast wäre er aus der Hängematte gekippt, so laut musste er lachen. Urlaub, das ist das, was im Kopf passiert, hatte ihm die Großmutter mal erklärt, und er hatte sie ausgelacht. Natürlich, für Menschen der Aufbaugeneration, die sich nur wenig leisten konnten, war es ein schönes Credo. Aber natürlich konnte sie es nicht ernst gemeint haben, oder? Und doch, auch ihre nachfolgenden Worte machten nun mehr Sinn: Urlaub – wie Freiheit – kann dir niemand geben. Da hilft kein Wellness-Instruktor und kein Sandstrand. Dafür braucht’s auch nichts davon. Urlaub wie Freiheit sind einfach da, wenn man sich für sie entscheidet. Die um ihn werkelnden Touristen und Mitarbeiter des Apartments sahen ihn immer noch entgeistert an, hielten ihn wohl für leicht verrückt, einfach ohne ersichtlichen Grund loszulachen. Ich nehm‘ mir mal Urlaub von euch allen, dachte er vergnügt, blendete sie erfolgreich aus seiner Wahrnehmung aus und las weiter in seinem Buch. Urlaub ist das, was im Kopf passiert, dachte er, die Worte im Singsang denkend, und prustete erneut los. Sein Kopf fühlte sich ziemlich… leer an, so leicht, als würde er schweben. Verliebt. In sich selbst.

Und irgendwie in diese ganze verrückte Welt.

Ist ja zum Glück nix passiert.
Den Satz hatte sie schon öfter gehört seit jener Nacht. Natürlich, es hätte noch schlimmer kommen können. Er hätte auch nicht mehr von ihr ablassen können. Hätte eine Waffe mithaben können. Hätte schneller als sie sein können, als sie rannte. So hatte er sich mit dem MP3-Player zufriedengegeben, dem sie ihm in der ersten Schrecksekunde ins Gesicht geworfen hatte, und war geflüchtet. Hatte dann wohl doch Angst bekommen, dass jemand eingreifen würde. Oder hatte ihren Freund gesehen, der von der anderen Seite des Sees gerannt kam. Glück im Unglück gehabt, wie man so schön sagte. War ja nix passiert.

Wenigen hatte sie erzählt, dass sie seitdem nachts oft nicht mehr schlafen konnte. Dass sie Fremden nun grundsätzlich misstrauisch gegenüberstand, dass sie allem Fremden ein gewisses Misstrauen entgegenbrachte. Nachts traute sie sich kaum mehr alleine vor die Tür. Überall konnte er lauern, der Fremde, der doch nur wie ein harmloser Jogger wie viele andere ausgesehen hatte, bis er sie von hinten anfiel und sie zu Boden riss, der böse Wolf im Schafsfell. Nein, ihr Körper hatte keinen nennenswerten Schaden davongetragen – wohl aber ihr Vertrauen in die Welt. Die Errungenschaften der Freiheit, überallhin reisen zu können, überall hingehen zu können, wichen Zynismus, wo die Angst hinzukam, überall ohne Vorwarnung gepackt, ausgeraubt, verletzt, vergewaltigt oder sogar getötet zu werden. Es war ein stiller Terror, einer, der nur selten als Schlagzeile seinen Weg in die Zeitungen fand, weil er zu alltäglich war, um noch Bedauern oder Schock zu erwecken, aber umso effektiver. Nach den Anschlägen von Paris gab es weltweite Reaktionen, was für eine Sauerei es gewesen sei. Nach dem Anschlag auf ihr Grundvertrauen hatte die Welt nur Schulterklopfer für sie über gehabt.

Irgendwie bist du ja auch ein wenig selber schuld.
Sie hatte sich verwirrt gefühlt, vertrieben aus einer noch halbwegs heilen Welt, in der zwar vieles ungerecht, aber doch noch nicht alles aus den Fugen schien. Plötzlich war die Illusion einer gewaltfreien, liebevollen Welt mit Macht über ihren Kopf zusammengebrochen, und ihr Menschenbild gleich mit. Wenn Menschen zu so etwas fähig waren… wer war dann noch sicher? Und so hatte sie Schutz gesucht – bei Freunden, bei Verwandten, bei Fremden, aber die Antwort war stets ähnlich wie wenig hilfreich: selber schuld, wenn du um die Zeit noch da rausgehst, wo dir doch schon gesagt wurde, wie gefährlich es nachts dort ist. Na klar! Es war also kein grundsätzliches Problem, dass es da draußen Menschen gab, die andere, die ihnen nichts getan hatten, anfielen, ausraubten, vielleicht sogar vergewaltigten, sondern nur ein Problem, dass es Menschen gab, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Irgendwann hatte sie es eingesehen, dass es hier niemanden gab, der ihr glauben wollte, dass sie sich vielleicht doch zu Recht als Opfer fühlte, und noch später beinahe akzeptiert, dass sie wohl auch keines gewesen war. Wer so dumm war, um die Zeit an jenem Ort zu gehen, war auch echt selbst schuld, wenn ihm was passierte.

Was kann man schon machen…
Und natürlich konnte man auch nichts machen. Der Mann war ins Dunkel der Nacht verschwunden, und übrig blieb nur eine verzweifelte junge Frau, die nicht verstehen wollte, warum das eben zum Leben „dazugehörte“, wie man ihr zu erklären suchte. Was würde es schon ändern, wenn man den Mann fand und vor Gericht stellte?, wurde sie gefragt. Nun, es würde der Welt zeigen, dass es gesellschaftlich unerwünscht ist, andere Menschen einfach so auszurauben und zu vergewaltigen, meinte sie. Würde vielleicht verhindern helfen, dass ich vom Ausnahmezustand zum Normalfall werde. Das ist Brasilien, meinten sie, nicht Europa. Genau deswegen, meinte sie. Genau aus diesem Grund.

Vor einigen Wochen erzählte mir meine Tante von einer immer wiederkehrenden Erfahrung, die mir interessant schien. Sie erzählte es in alltäglichem Tonfall, als wäre es die normalste Sache der Welt und unbedeutend, aber ich glaube, sie sprach von etwas Besonderem. Wir sprachen darüber, wie es sei, selbst Kinder zu haben, und sie meinte, es sei ganz schön anstrengend, aber hergeben würde man sie dann doch nicht mehr wollen. Zum Beispiel zu Mittag, da würden sie oft von der Schule heimkommen und einfach mal Dampf ablassen, weil sie das in der Schule ja nicht könnten. Das müsse man schon aushalten als Mutter, und nicht persönlich nehmen, auch wenn es manchmal schwer war. Danach waren sie den Rest der Zeit wieder sehr friedlich und liebevoll zueinander.

Ebenso vor einigen Wochen las ich in einem Forum verschiedene Ansichten darüber, warum Schüler oder Studenten immer wieder an ihre (ehemalige) Schule zurückkehren, um dort ein Massaker anzurichten. Normalerweise wird dann darauf verwiesen, dass in den USA eben der Zugang zu Waffen ein leichter sei, und es deswegen dort mehr solche Exzesse der Gewalt gebe, und wahrscheinlich trägt der leichte Zugang jenen Waffen seinen Part dazu bei, dass Jugendliche und junge Erwachsene aus ihren Gewaltfantasien tatsächliche Gewalt werden lassen können. Aber es stellt sich die Frage, ob eine restriktivere Waffenpolitik allein das Problem lösen würde. Was ist die Ursache, der Auslöser der Gewaltakte? In ebendiesem Forum wurden allerhand Studien zitiert, wonach Affen (und so auch der Mensch, wie sie meinten) von Grund auf brutal seien, wenn sie die Freiheit dazu bekommen. Aber das erklärt nicht, warum eine große Masse an Menschen eben keine Massaker verübt, obwohl sie in einigen Momenten ebenso die reale Möglichkeit hätten.

Letzte Woche fiel mir dann ein Buch von Alice Miller in die Hände, in dem sie sinngemäß schreibt, die Gewalt der Erwachsenen sei eine Folge von in der eigenen Kindheit erlebtem Schmerz, der unter verschiedensten Normen und Wein-Nicht-Ansagen verschüttet und nie ausgelebt wurde. Ihre These war wohl, dass der Mensch nicht notwendigerweise zur Gewalt neige, wenn man ihn nur vor der an ihm ausgeübten Gewalt schütze oder ihm nachträglich den Raum öffne, die ihm angetane Gewalt und den daraus folgenden Schmerz anzuerkennen. Ich kann mir schwerlich vorstellen, dass es jemals möglich oder vielleicht überhaupt sinnvoll sein wird, junge Menschen vor jeglichem Schmerz fernzuhalten. Aber ihnen einen Raum zu öffnen, in dem sie diesen Schmerz ausdrücken können, halte ich für eine interessante Sache.

Nach oben buckeln, nach unten Treten

Wenn wir davon ausgehen – wie meine Tante erzählte – dass in durchschnittlichen Schulen dieser Raum oder auch nur irgendein Raum, der diesem Raum Platz bieten könnte, nur sehr bedingt existiert, wird vormals völlig unverständliches Verhalten mancher Kinder vielleicht nachvollziehbarer. Möglicherweise ist ein Teil ihres Verhaltens eine Konsequenz der Tatsache, dass der direkte Weg, der Ausdruck des Schmerzes, ihnen zu lange verwehrt wurde, weswegen sie sich andere Wege suchen, ihn auszudrücken. Vielleicht in der Projektion auf andere Kinder, die ohne ersichtlichen Grund provoziert werden, und wenn sie reagieren, als die bösen Täter beschimpft werden, stellvertretend für die wirklichen Verursacher, die unantastbar scheinen (zum Beispiel die Eltern). Es gibt in Österreich ja das schöne Wort „Nach oben buckeln, nach unten treten“, das in diesem Fall auf einen tieferen Zusammenhang deuten könnte, als üblicherweise damit ausgedrückt wird. Der eigene Schmerz, der selbst nicht ausgedrückt werden kann, wird im Schmerz des „Getretenen“ gesucht und über Empathie nachempfunden. Besondere Grausamkeit könnte in diesem Sinne nichts anderes sein als das verzweifelte Bedürfnis, im Ausdruck des Anderen einen Ausdruck des eigenen unterdrückten Schmerzes auszulösen – um ihn so sichtbar zu machen.

Aber kann ich den Raum überhaupt halten?

Jene, die bereits ein oder mehrere Male das Wagnis eingegangen sind, Kindern einen Raum zu öffnen, den sie relativ frei füllen können, werden wohl ähnliche Erfahrungen wie ich gemacht haben – nun können Reaktionen auftreten, die überfordern, und die man dann gerne wieder wie sonst auch unterdrücken, in andere Zeiten und Räume schieben möchte. Es kann zu Gewaltakten kommen. Es kann dazu kommen, dass das Verhalten der Kinder unangenehme eigene Erfahrungen aufrührt, dass sie sich auf eine Art und Weise verhalten, die die Erwachsenen selbst “kaum ansehen” können – vielleicht weil es sie an den eigenen Schmerz erinnert, der nie Platz fand, bearbeitet zu werden?

Eine sehr weise Frau, die sich viel mit therapeutischem Arbeiten beschäftigt, sagte mir einmal, ein Therapeut hätte im Grunde zwei Aufgaben. Einen Raum zu kreieren, indem der Patient sich sicher genug fühlt, sich zu öffnen. Und dann den sicheren Raum zu halten, egal, was in der Leere dieses Raumes zutage tritt. Es gibt offenbar viele Menschen, die die erste Aufgabe gut meistern, aber nur wenige, die auch der zweiten gewachsen sind. Es ist wohl nichts, was man jemandem vermitteln oder lehren kann, sondern hat eher damit zu tun, seine eigene Vergangenheit aufgearbeitet zu haben. Hat man dies nicht, kann der ans Licht gebrachte Schmerz des Patienten dazu führen, dass der Therapeut, an den eigenen unterdrückten Schmerz erinnert, den er nicht erinnern will, unbewusst so handelt, dass er diesen selbst nicht fühlen muss – also das Spiel wiederholt und damit nur eine weitere Schicht Aufzuarbeitendes über den ursprünglichen Schmerz legt.

Die Büchse der Pandora

Zurück zu unserer Schulsituation kann dies bedeuten, dass wir mit dem Öffnen eines Raumes, der eben nicht jede Regung einer „übertriebenen“ Reaktion sofort unterdrückt, sondern sie auch zulassen kann, eine Art Büchse der Pandora öffnen. Denn es könnte für viele Kinder, die nicht zufällig das Glück haben, eine verständnisvolle Mutter wie meine Tante zu haben, der einzige Ort sein, an dem sie ihren Schmerz zum Ausdruck bringen können. Es dürfte selbst für den weisesten Lehrer ein Ding der Unmöglichkeit oder zumindest eine sehr große Überforderung sein, diesen Raum in jedem Fall und jederzeit so halten zu können, dass der unterdrückte Schmerz, der in solchen freien Räumen seinen Weg bahnt, jederzeit in sicherem Rahmen ausgedrückt werden kann. Aber es erscheint mir eine interessante Überlegung, ob es nicht möglich wäre, eine Art von Institution zu erfinden, die diese Aufgabe innerhalb eines freien Arbeitens unterstützt.

An der Schule im Norden Deutschlands, an der ich letztes Jahr gearbeitet habe, gab es das sogenannte Lösungskomitee, in dem Konflikte, die die Kinder nicht unter sich lösen konnten, behandelt wurden, und in vielen Fällen funktionierte es auch ganz gut. Aber wenn wir davon ausgehen, dass an der oben aufgeworfenen These etwas dran ist (nämlich, dass ein Teil unseres Handelns dem Zweck dient, einen Grund zu haben, unseren unausdrückbaren Schmerz ausdrücken zu dürfen), so stellt sich mir die Frage, ob ein Lösungskomitee, das jeweils hauptsächlich den aktuellen Fall untersucht, nicht zu wenig weit greift, weil es die Handelnden im Hintergrund des Geschehens nicht einbeziehen kann. Was mir vorschwebt, ist eine Art geschützter Raum, in dem es eben nicht peinlich, sondern mutig ist, seinen Schmerz auszudrücken, der aber auch für die anderen in diesem Raum die Sicherheit bietet, nicht in Gefahr zu geraten. Denn oftmals scheint es viel mehr um die (öffentliche) Anerkennung des Schmerzes zu gehen denn um das Finden eines Schuldigen. Das Anerkennen scheint auch die Funktion zu erfüllen, dem Schmerz eine Art von mehr als einem Meschen geteilter Realität zuzugestehen, ihn aus der Ebene der möglichen Einbildung in die allgemein akzeptierte Wirklichkeit zu hieven.

Jene Institution müsste es also ermöglichen, einen subjektiv gefühlten Schmerz wertfrei anerkennen zu lassen, egal wie absurd er erscheint. So könnte der sich verletzt fühlende die Möglichkeit haben, seinen Schmerz auch fühlen zu dürfen, selbst wenn er von dem „Täter“ (der sich seiner „Tat“ wohl in vielen Fällen gar nicht bewusst ist) gehört hat, er solle sich nicht so anstellen, so schlimm sei es ja wohl nicht. Ausgesprochen von einem Menschen, von dem der so Verletzte abhängig ist (etwa den Eltern), wäre es für mich gut nachvollziehbar, wie aus einem nicht fühlbaren Schmerz später die Lust an der Gewalt erwächst – um sie zumindest an anderen sichtbar zu machen. Vielleicht sogar ebenso unter einem abwertenden „Stell dich nicht so an“, um die eigene Situation noch realistischer nachspielen zu können… eine solche Institution würde es auch gar nicht nötig haben, einen “Schuldigen” für den Schmerz zu bestimmen. Ihre Aufgabe bestünde nur darin, Schmerz einen Raum zu geben, so dass er in er Welt des Verletzten seien rechtmäßigen Platz einnehmen darf und somit auch verarbeitet werden kann.

Das Ausmaß des unterdrückten Schmerzes

Um zurück zu der Frage zu kommen, warum manche Menschen an ihre alte Schule oder Universität zurückgehen, um dort Menschen zu erschießen: es wird viele individuelle Gründe geben. Aber einer, der sie möglicherweise alle vereint, könnte sein, dass diese Menschen keinen geeigneten Raum fanden, ihren Schmerz auf eine Weise auszudrücken, der niemanden schaden musste, also ihn in „Rohform“ fühlen zu dürfen, bevor sie ihn an anderen Menschen nachspielen zu müssen glaubten. So zynisch es klingen mag, aber von einer gewissen Sichtweise aus betrachtet ähnelt der Mord an unschuldigen Menschen in dieser Hinsicht ein Stück weit dem Rollenspiel kleiner Kinder, die das Erlebte Nachspielen – nur eben in diesem Fall mit tödlichen Konsequenzen.

Als ich mit 14, 15 ziemlich regelmäßig an Selbstmord dachte und mir vorstellte, wie die Welt wohl reagieren würde, war ich in meiner Schulklasse nicht alleine mit meinen Gedanken, sondern eher ein Teil einer Art „Community“. Es war beinahe normal, sich umbringen zu wollen. Durch einige gute Freunde, das Schreiben und auch meine Gitarre fand ich irgendwann genug Möglichkeiten, mich auch anderweitig auszudrücken. Aber in meiner vorherigen Unfähigkeit, dies zu tun, unterschied ich mich wohl nicht viel von jenen Massenmördern. Wenn man die Anzahl jener eher auto-aggressiven Menschen wie mich zur Zahl der eher nach außen aggressiven Menschen hinzuzählt, erhält man wohl einen beeindruckend großen Ausschnitt der Gesellschaft.

Alleine deswegen wird es womöglich besser sein, einen Raum in der Schule zu öffnen, in dem auch der Schmerz Platz finden kann und sich auf die Leistung auswirken darf. Denn den eigenen Schmerz zu akzeptieren benötigt neben einem wohlwollenden Gegenüber (das zum Beispiel auch ein Tagebuch sein kann) vor allem eines: Zeit. Es wird kaum möglich sein, mit dem Öffnen der Räume auch ein perfektes Therapie-Umfeld mitzuerschaffen, aber vielleicht gelingt es zumindest, die Leere dieser Räume ein bisschen länger auszuhalten, als wir es sonst tun würden, und ein bisschen schlimmeres Verhalten auszuhalten, als wir es für angebracht halten. Das mag anstrengend klingen (und ist es auch). Aber können wir davon ausgehen, dass Kinder in jeder Familie den Freiraum vorfinden werden, sich ihrem Schmerz zu stellen? Wohl eher nicht (mehr). Alles, was keinen Ausdruck finden darf, hinterlässt jedoch einen umso tieferen Eindruck, formt einen Menschen mit.

Oft mag es deshalb langfristig besser sein, im Jetzt einen Raum trotz offensichtlich absurden Verhaltens zu halten (und jenes nicht persönlich zu nehmen). Sich hinzustellen und einen sicheren Raum zu schaffen für den Ausdruck des Schmerzes in der Urform, wird wohl zu überraschenden Entwicklungen führen. Vielleicht ermöglichen wir es so zumindest einigen Menschen, ihn nicht an anderen ausleben zu müssen und damit nur ein weiterer Multiplikator der schmerz-vollen Geschichte der Menschheit zu sein.

Niklas

Dies ist der zweite Teil eines Textes, den ich für den Perger Poetry-Slam mit dem vorgegebenen Thema “Weltverschwörung” verfasst habe. Weil sie thematisch zusammengehören, aber auch etwas mit den bevorstehenden Wahlen am Sonntag in Wien zu tun haben, veröffentliche ich diese Woche gleich beide Texte. Ein Hinweis für die Hetze-Jäger, die das Internet mittlerweile unsicher machen: in diesem Text versetze ich mich in die Rolle eines Agitators mit der Persönlichkeits-Struktur, die ich im ersten Text beschreibe. Er gibt nicht meine Vorstellung einer besseren Welt wider. Es ist erschreckend, wie einfach es ist, solche Hetze zu schreiben, denn Vorbilder findet man auch in der aktuellen Politik genug. Etwa, dass es sich mittlerweile fast quer über die Parteienlandschaft etabliert hat, Migranten als “problematisch” zu bezeichnen (ob als kriminell oder als Kostenfaktor), bevor sie überhaupt irgendetwas angestellt haben. Plötzlich müssen sie beweisen, dass sie konstruktive Mitglieder der Aufnahmegesellschaft sein werden. Und selbst die, die sich positiv hervorheben, ändern nichts an dem unterschwelligen Gefühl. Einer der Grundsätze der Rechtssprechung, der uns vom Stalinismus und Hitlerdeutschland unterscheidet, ist nicht nur gefährdet, sondern zumindest für bestimmte Gruppen offensichtlich bereits weitgehend abgeschafft: Auf Wiedersehen, Unschuldsvermutung.

Die haben geglaubt, gehofft, es sind ja doch nur ein paar Wahnsinnige – aber sie haben sich geirrt, meine Freunde! Wir sind bei über 30%! Denn es geht nicht darum, wer Recht hat, wer Recht gebrochen hat, und wer es wieder zusammenflicken soll. Es geht ums gute, rechte Gefühl! Ums hoffnungsvolle Gefühl, dass unsere Wahrheit sich gegen die Lügen der Mächtigen am Ende doch durchsetzen wird. Wir bringen Bewegung ins Land!

Als erstes nehmen wir uns der Schmarotzer an, die unserem Volk das Blut aussaugen: die Ausländer! Diese waren uns ja immer schon verdächtig – und zu Recht! Unsere lustigen Gutmenschen da meinen dann immer, de sind ja gar ned so schlimm. Die sind ja gar ned alle kriminell. Aber geht’s darum? Nein! Es geht ums Gefühl! Ist ja wurscht, ob die jetzt schon was angestellt haben. De sind trotzdem alle kriminell in Wahrheit. Das werden wir denen schon noch nachweisen.

Des Problem war ja bisher immer, dass de Mächtigen das verhindert haben. Die haben ja immer verhindert, dass das einfache Volk autonom denkt und wird. Und die, die des ändern wollten, so wie zum Beispiel da Nikolaus Tesla mit seiner Energiemaschine, de habns glei moi umbracht. So is des nämlich, de Mächtigen biegen sich de Wahrheit schon a bisserl hin wies de brauchen. (Spöttisch) Na, den haben mir ned umbracht den Tesla. Der is vo selber gstorbn. Ja sicher! Und was war mim Hitler damals? Is der a vo selber gstorbn, vo eigener Hand wahrscheinlich a nu, wollns uns das erzählen? (Bestimmt) Der hat was fürd Wirtschaft tan der Mann, des war halt nu a Visionär seiner Zeit. Hat a bisserl mehr Straßen baut wie da Pühringer heute. Der hat international gedacht! In Infrastruktur investiert! Hat auf Tausend Jahr ind Zukunft bauen wollen und ned nur bis zur nächsten Wahl!

Des mid de Wahlen is ja gefühlt sowieso a Topfn. De schachern si de Posten zu, dass a Graus is, und wos habn wir Wähler davon? Nix! De könnma eigentlich glei abschaffen a. Spar ma si de ganzen Posten vo Bundesrat bis Parlament, de sitzen jo eh nur da und lesen Zeitung. Zeitung lesen! Als wenns damit das Volk weiterbringen würden! Habns mal de Sendung Parlament auf ORF 2 gseng? Nein? Habns nix verpasst!

Aber jetzt wird sowieso olles anders. Wir gehen nach Fähigkeiten. Die meisten Frauen haben halt eher die Fähigkeit zum Kochen vom Herrn mitbekommen, und putzen könnens a ganz gut, die Damen. Zumindest besser wie die Männer, und irgendwer muss das ja machen. Dann iss ja deppert, wenn das derjenige macht, der das nicht so gut kann! Das ist angewandte Wirtschaftskompetenz, meine Damen und Herren! Und die richtigen Männer brauchen wir bald wieder für ganz andere Aufgaben. Sie wissen schon.(Verschwörerisches Zwinkern ins Publikum) Die Mächtigen wollen uns was erzählen von Rechtsstaatlichkeit, obwohls doch in Wahrheit a völliger linker Haufen ist! Da stimmt doch etwas nicht! Da muss ein Mann mit echtem Rechts-Bewusstsein doch aufstehen und sagen: Ich glaube, da muss sich etwas ändern! Ich sage euch heute: da wird sich auch etwas ändern!

Die wollen uns weißmachen, dass es keine Probleme gibt in diesem Land, dass alles friedlich ist. Dass es der Wirtschaft gut geht, oder zumindest besser als sonstwo, und damit uns allen. Aber könnt ihr das auch fühlen? Nein! Sind es Stümper, die uns führen? (Verächtlich) Haben sie vielleicht einfach Pech gehabt in ihren Entscheidungen? Nein! Alle habens studiert! Auf Steuerkosten! Haben wir zahlt! Sie halten sich für schlau. Aber wir haben sie durchschaut! Wir befinden uns längst im dritten Weltkrieg. Geführt mit den Waffen der kulturellen wie finanziellen Unterwanderung! Aber wir sind wir, nicht ihr, und wir wollen wir bleiben! Und deswegen, all ihr anderen: schleichts euch ham!

Und wenn diese ganzen Ausländer an unsere Grenzen klopfen, wir werden ihnen von unseren stabilen Mauern deutschstämmiger Handwerkskunst aus zusehen. Wir werden auf sie runterspucken können, auf diese Unterwanderer, damits auch gleich sehen, wer auch menschlich über ihnen steht. Und wenn wir sie innerhalb unserer Grenzen vorfinden: wir werden sie verhaften müssen, wenns so deppert sind, si reinzuschleichen statt raus. Ned Deutsch glernt, kein Integrationswille. Da siagt mas wieder! Abschieben in ihre Heimat wollten wir sie ursprünglich nur, human wollten wir sein. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker achten! Aber die Mächtigen wollen es nicht! Also gut, werden wir Lager bauen müssen, um sie unterzubringen. Hat sich ja auch früher schon bewährt. Da werden die Mächtigen schön schauen, wie schnell da die Asylströme versiegen werden, wenn erst die rechten Maßnahmen getroffen werden!

(Zum Publikum) Der freundliche Herr in der ersten Reihe, wie heißen Sie? Der gibt mir irgendwie auch ein schlechtes Gefühl. Der gefährdet uns die Volksgesundheit mit seinem schlechten Gefühl! Wahrscheinlich fühlt er sich auch noch unschuldig, der feine Herr! Kommen Sie, was haben Sie angestellt? Na, irgendwas müssen Sie schon angestellt haben – woher sonst kommt denn mein Gefühl? Können Sie Ihre Unschuld beweisen? Nein? Sehen Sie! (wendet sich ab, murmelt zu sich selbst) Gerade war ich noch gut drauf gewesen. (Zum Herrn im Publikum) Na, Ihren Namen habe ich ja nun, den Rest werden wir schon herausfinden. Freuen Sie sich auf Besuch. Da sind wir mittlerweile sehr effizient geworden…

(Geht zurück zum Mikro. Pause. Räuspern.)

Da solls wohl tatsächlich Menschen geben, die sagen, sie sind unzufrieden mit dem, was wir jetzt machen. Dass sie das so nicht gewollt haben. Ich mein, wirklich? Wir waren ja jetzt nicht gerade heimlich unterwegs mit unseren Ansichten und Plänen für die Zukunft. Aber darum braucht das Volk ja wohl gute Führer, die ihm auch offiziell die Verantwortung abnehmen, die viel zu schwer auf ihm wiegt. Bald, meine Lieben, bald hammas gschafft, und ihr könnt euer Gewissen wieder für immer schlafen legen.

Ich wünsche bis dahin noch angenehme Träume. Funktioniert übrigens am allerbesten, wenns Ihre Augen weiter geschlossen halten… Dankeschön!

Dies ist der erste Teil eines Textes, den ich für den Perger Poetry-Slam mit dem vorgegebenen Thema “Weltverschwörung” verfasst habe. Weil sie thematisch zusammengehören, aber auch etwas mit den bevorstehenden Wahlen am Sonntag in Wien zu tun haben, veröffentliche ich diese Woche gleich beide Texte.

Vor einigen Tagen war ich ein bester Freund aller Zeiten. Weil ich aus dem Fenster geschaut habe. Einige Minuten später war ich das größte Arschloch. Weil ich aus dem Fenster geschaut habe. Wieder einige Minuten später war ich dann der empathischste Mensch der Welt. Weil ich aus dem Fenster geschaut habe. Und dann schuld daran, dass sie sich schlecht fühlt. Erraten: Weil ich aus dem Fenster geschaut habe. Sie, das ist eine ehemalige Freundin von mir. Was hat sich verändert, während ich insgesamt wohl so eine Stunde gleichmütig aus dem Fenster geschaut habe? Die meisten Menschen würden wohl davon ausgehen, dass ich irgendetwas an meinem Aus-dem-Fenster-Schauen verändert habe, um die wechselnden Gefühlszustände zu rechtfertigen. Aber damit liegen sie in diesem Fall falsch. Ich habe nichts getan. Und war ihrer Ansicht nach trotzdem verantwortlich an allem Positiven und allem Negativen, das ihr passiert ist.

Das ist nämlich der interessante Punkt: In ihrer Gedankenwelt kommt sie selbst als Handelnde kaum vor. Die Welt passiert ihr. Ich habe fast vier Jahre gebraucht, um das zu verstehen. Ich habe dann in schlauen Büchern gelesen, dass es sich um eine Persönlichkeitsstörung handeln soll. Borderline. Aber was ist das überhaupt, eine Persönlichkeitsstörung? Wer definiert, was „gestört“ ist und was nicht? Wer ist berechtigt, Menschen derart einzuteilen? Bin ich berechtigt, sie dafür zu verurteilen, dass sie schlicht anders ist als ich? Ist sie dann nicht ebenso berechtigt, mich dazu verurteilen, weil ich schlicht anders bin als sie?

Denn irgendwann, wenn man viel Zeit mit ihr verbringt, fängt man an, es selbst zu glauben, was einem so vorgeworfen wird. Man fängt an, seinem eigenen Urteil nicht mehr so ganz zu trauen. Sich zu verteidigen, zu versuchen, es ihr Recht zu machen, weil irgendetwas muss man doch angestellt haben, um so ein Verhalten zu rechtfertigen. Vielleicht unbewusst? Ohne es zu wollen? Ich muss ja wohl doch irgendetwas gemacht haben. Woher sonst käme ihr Gefühl?

Irgendwann bin ich dann gegangen, weil es mit der Zeit wirklich gefährlich wurde. Wenn man ständig damit rechnen muss, ohne Vorwarnung stundenlang angeschrien zu werden, ohne etwas dafür oder dagegen machen zu können, entwickelt man eine Art von Paranoia. Man ist ständig unter Adrenalin. Kann nachts nicht mehr schlafen. Fängt an, sich vorzustellen, sie würde in ihrer Wut irgendwelche Sachen in der gemeinsamen Wohnung kaputtzumachen, obwohl sie das wohl tatsächlich nie machen würde. Fängt also an, selbst irgendwie verrückt zu werden, sich von einer gemeinsamen, nachvollziehbaren Realität zu verabschieden. Ich traf dann die Entscheidung, mich lieber von ihr zu verabschieden, bevor dieser Prozess zu weit gegangen war.

Einige Zeit später hab ich sie dann wiedergetroffen. Ein Freund hatte mir von den Friedens-Mahnwachen erzählt, die überall organisiert werden. Da gabs allerhand zu hören gegen den Krieg, den Kapitalismus, gegen das System, das Schuld an allem sei. Etwa von einem jungen Mann mit Dreadlocks, von außen betrachtet wohl eher politisch links einzuordnen, der trägt eine fabelhafte Kapitulismuskritik vor, die er wohl 1:1 aus „Mein Kampf“ zitiert haben könnte. Der nächste wird gleich ein wenig direkter und schimpft gemütlich gegen die Juden, die sowieso an allem Schuld sind. Ich fühle mich an meine ehemalige Freundin erinnert. Tatsächlich ist sie unter den Zuhörern, klatscht begeistert mit, scheint sich sichtbar wohl, unter ihresgleichen zu fühlen. Bin ich etwa Jude, ohne es zu wissen? Vielleicht darf man mir deswegen grundlos die Schuld an allem in die Schuhe schieben? Dann ist es ja offensichtlich ok, wenn man den Rednern in ihrer Einmütigkeit Glauben schenken darf. Aber wäre ich Mitglied einer weltumspannenden Judenverschwörung, sollte ich wohl zumindest einen anderen Juden persönlich kennen. Und mir vermutlich auch ein wenig cooler vorkommen. Immerhin wäre ich dann laut den geschätzten Vortragenden beinahe allmächtig.

Es ist ja anstrengend genug, wenn eine Freundin dir die Ohren volljammert, was für ein Arschloch du bist, obwohl du nichts angestellt hast. Aber was, wenn das zur Normalität wird? Schuld sind ja immer nur die „bösen Mächtigen“. Die Welt, die passiert den Machtlosen. Aber was, wenn diese gefühlt Machtlosen selbst an die Macht kommen? Dann versuchen, die bösen Verschwörer auszuschalten, um die Öffentlichkeit zu schützen? Mich plötzlich jemand ganz offiziell zum Verschwörer bestimmt und mich verhaftet, obwohl ich weiter nichts anderes tue, als aus dem Fenster zu schauen und meinen Gedanken nachzuhängen? Nur, weil es sich für ihn so richtig anfühlt? Unser Bildungssystem ist tatsächlich ganz schön kaputt, wenn es den Jungen nicht vermitteln kann, wo uns das wieder hinführen möchte.

Ich bin dann ans Mikrophon, hab mich durchgekämpft, hab versucht, die Leute zur Vernunft aufzurufen. Wehret den Anfängen und so.
„Was soll schon passieren? Wir haben ja nichts angestellt! Aber die sollen mal büßen!“, rief ein Mann aus den hinteren Reihen, und die Menge klatschte begeistert.
„Tut mir Leid, Stimme der Vernunft“, meinte ein alter Mann, der ein wenig verschämt dreinblickte, zu mir. „Ich glaube, deine Zeit ist abgelaufen.“

Ich sah die johlende Menge vor mir, die schweigende Masse der Teilnahmslosen hinter mir, und musste ihm ernüchtert rechtgeben. Ich hätte noch viel zu sagen gehabt. Aber meine Zeit war abgelaufen. Der öffentliche Raum gehörte nun anderen.