Warum existiert Mobbing? Was verbindet den Faschismus im Kern mit dem Kommunismus â und mit der Mafia? Warum hat die FPĂ in den letzten Jahren mehr und mehr Zulauf in Ăsterreich? Und warum wiederholt sich â wie viele nun erneut befĂŒrchten â eigentlich die Geschichte so gerne und oft? Eine Betrachtung anhand zweier interessanter Muster in sozialen Systemen.
Die Antwort auf die letzte Frage ist meiner Meinung nach am einfachsten zu geben: weil wir uns soziales Geschehen traditionell sehr mechanisch erklĂ€ren. Ein Akteur oder mehrere wenige treiben den Lauf der Geschichte voran, der Rest reagiert darauf, etwa: âAdolf Hitler war der Grund fĂŒr den Faschismusâ. In meiner Schulzeit wurde mir das sinngemÀà so erklĂ€rt. Oder umgekehrt: hĂ€tte es ihn nicht gegeben, wĂ€re es nie zu all dem gekommen.

Ja, ich wars! Ganz alleine habe ich die Welt ĂŒberwunden! Muahaha!
(kurze Zusammenfassung des an Schulen vermittelten Geschichtsbildes)
WĂ€re es tatsĂ€chlich so, wĂ€re alles, was nötig ist, eine Wiederholung zu verhindern, Ausschau nach sich Ă€hnlich verhaltenden Menschen zu halten und diesen tunlichst keine BĂŒhne zu geben. Ich glaube jedoch, dass es damit nicht getan ist. Auch wenn viele möglicherweise den Kopf schĂŒtteln mögen ob dieser Aussage: ich glaube, Adolf Hitler war in gewisser Hinsicht SymptomtrĂ€ger eines bestimmten sozialen Musters. Er war mit Sicherheit ein besonderer Mann mit besonderen Eigenschaften, die ihn zu seiner Zeit zu dem werden lieĂen, der er spĂ€ter wurde, und ich möchte ihn nicht von seiner persönlichen Verantwortung freisprechen. Aber ohne die ganz bestimmte Umgebung, mit der er in Wechselwirkung stand, wĂ€re ihm nicht möglich gewesen, was ihm möglich war.
Wenn wir also verhindern wollen, dass sich die Geschichte wiederholt, mĂŒssen wir neben ihm als SymptomtrĂ€ger auch die UmstĂ€nde und sozialen Muster betrachten, die in Wechselwirkung mit seiner individuellen Person hervorgebracht haben, was wir zu verhindern suchen. Mir ist klar, dass die Sichtweise, wir wĂ€ren alle Opfer gewesen, in der Nachkriegszeit vor allem fĂŒr Ăsterreich einen enormen Wert hatte, weil sie zu einer besseren Behandlung durch die SiegermĂ€chte fĂŒhrte. Aber sie verstellt nun, Jahrzehnte nach dem Geschehen, den klaren Blick auf die AnfĂ€nge, und bereitet damit den NĂ€hrboden fĂŒr einen Neuanfang mit.
Was aber hat nun ein Adolf Hitler und der Nationalsozialismus mit Mobbing zu tun? Um dies zu verstehen, mĂŒssen wir eine grundlegende Unterscheidung zwischen zwei Arten sozialer Systeme verstehen: Familien-Systeme und Rechts-Systeme.
Was ist ein Familien-System?

“Den Charakter und Wert des Menschen erkennt man, wie jeder weiĂ, unfehlbar an der Form seines Kopfes.”
Ein Familien-System schreibt seinen Mitgliedern implizit vor, wie sie sich zu verhalten haben. Das Wir-GefĂŒhl wird durch Gleichheit im Sein und Verhalten angestrebt. VerhĂ€lt sich jemand anders als erwartet, ist die Konsequenz unklar, und meist je nachdem um wen es sich handelt unterschiedlich. Entweder wird Druck auf denjenigen ausgeĂŒbt, sich wieder den anderen anzupassen, oder Druck ausgeĂŒbt, die Gruppe zu verlassen. Es gibt hĂ€ufig interne MachtkĂ€mpfe darĂŒber, wer die Gruppen-Normen definiert.
Familien-Systeme haben den Vorteil, dass sie Menschen, die sich ohnehin Ă€hnlich sind, gut zusammenschweiĂen und zu gemeinsamen Leistungen anspornen können. Weil Abweichungen von der Norm nicht geduldet werden, sind Familien-Systeme jedoch nicht gut geeignet, um Innovation hervorzubringen.
Familien-Systeme entstehen ĂŒberall dort automatisch, wo nicht bewusst Rechts-Systeme eingefĂŒhrt werden, und auch dort, wo Rechts-Systeme zusammenbrechen.
Beispiele kennen die meisten aus dem persönlichen Umfeld, etwa in Teams oder einer Schulklasse. Ein weiteres sehr bekanntes und plakatives Beispiel ist z.B. die Mafia, die sich ja auch selbst den passenden Spitznamen âFamilieâ gibt.
Was ist ein Rechts-System?

“Nicht töten, nicht verletzen, nicht stehlen, … ok, dann bin ich eben freundlich, das darf ich ja!”
WĂ€hrend im Familien-System implizit vorgeschrieben ist, wie man sich zu verhalten hat, ist in einem Rechts-System explizit festgelegt, wie man sich nicht zu verhalten hat. Im Staatswesen etwa bilden Gesetze einen Rahmen, innerhalb dessen man sich verhalten kann wie man es selbst fĂŒr richtig hĂ€lt â damit entsteht ein Spielraum möglichen Verhaltens und Raum fĂŒr DiversitĂ€t/Innovation. Bricht jemand diese Regeln, so ist klar definiert, was daraufhin passiert. Hat der TĂ€ter seine Konsequenz auf sich genommen, so ist seine Schuld getilgt, und ihm steht (zumindest in der Theorie) ein Neuanfang zu.
Ein Rechts-System funktioniert nur dann, wenn es ein Gewalt-Monopol gibt, und dieses auch gerecht und konsequent ausgeĂŒbt wird. Kommt es zu Ungleichbehandlung, oder schwindet das Vertrauen, dass Ăbertretungen geahndet werden, wird das Gewalt-Monopol in Frage gestellt. Es kommt zu Machtwechseln oder sogar zum Zusammenbrechen des Rechts-Systems selbst und zur RĂŒckkehr zum Familien-System.
Beispiele sind Staaten wie Ăsterreich, aber Rechts-Systeme können auch im Kleinen, etwa in Teams oder in Schulklassen errichtet werden, wie ich es mehrmals intuitiv an Schulen â ohne noch in diesen Begriffen zu denken â getan habe.
Ein weiterer interessanter Faktor: Familien-Systeme können innerhalb von Rechts-Systemen existieren, umgekehrt funktioniert dies jedoch â nach meiner Erfahrung mit dem Schulsystem â auf Dauer nicht so gut. Ein Rechts-System eröffnet einen Spielraum fĂŒr Anders-Artigkeit, den ein ĂŒbergeordnetes Familien-System nicht dulden kann.
Was hat das alles mit Mobbing zu tun?

“Da hĂ€lt sich wohl jemand fĂŒr etwas Besseres?!”
Sehr viel! Ich bin mittlerweile ĂŒberzeugt davon, dass Mobbing als PhĂ€nomen eine mögliche natĂŒrliche Folge eines Familien-Systems ist. Ist eine Gruppe in einem Familien-System sich sehr Ă€hnlich, so wird sie sich eher gegenĂŒber einem anderen Familien-System im AuĂen abgrenzen (FuĂball-Fanclubs sind ein gutes Beispiel dafĂŒr, oder auch “völkisch” geprĂ€gte Staaten). Ist sie jedoch sehr heterogen, ist die Konsequenz entweder ein mehr oder weniger offener Machtkampf um die Definitionsmacht der Normen – oder eben Mobbing: âPass dich an oder verschwinde, damit wir alle gleich sein könnenâ.
Wer dann jeweils tatsĂ€chlich Mobbing-TĂ€ter oder Opfer wird oder ob es stattdessen zum offenen Machtkampf zwischen Gruppen kommt, hĂ€ngt wiederum viel mit individuellen Aspekten der handelnden Menschen zusammen. Aber in einem Familien-System, in dem Mobbing existiert, ist der Mobbing-TĂ€ter im Grunde meist nur SymptomtrĂ€ger einer tieferen Problematik. Wird der TĂ€ter dann zum Beispiel gekĂŒndigt, ohne ein funktionierendes Rechts-System aufzubauen oder die Gruppen so neu einzuteilen, dass sie tatsĂ€chlich homogen werden und relativ friedlich nebeneinander existieren können, wird es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit frĂŒher oder spĂ€ter wieder zu Mobbing kommen.
Mobbing und offene MachtkĂ€mpfe sind also dort an der Tagesordnung, wo eine unterschiedliche Gruppe von Menschen zusammenkommt und kein Rechts-System existiert. Und hat dort ein Ende, wo FĂŒhrungskrĂ€fte ein solches etablieren und verteidigen.
ZurĂŒck zum Faschismus
Der Faschismus im letzten Jahrhundert war fĂŒr mich, sehr vereinfacht ausgedrĂŒckt, die Folge des Niedergangs eines Rechts-Systems, das vielen verschiedenen Menschen und Kulturen unter einer Herrschaft ein Miteinander ermöglicht hatte. Die alten Monarchien fielen, den Menschen ging es schlecht, das Vertrauen in eine bessere Zukunft und eine politische Elite, die die Massen dorthin fĂŒhren wĂŒrde, schwand. Das Gewalt-Monopol wurde immer mehr unterhöhlt. Menschen ahnten, dass irgendetwas gehörig schief lief. Aber es war zu komplex, als dass jemand tatsĂ€chlich erklĂ€ren konnte was und warum, und die Hoffnungslosigkeit stieg mit der Inflation tagtĂ€glich.

“Also ich hĂ€tte da so eine Idee…”
Und dann plötzlich der Lichtblick: jemand hatte eine einfache ErklĂ€rung, die eine RĂŒckkehr zur eigenen HandlungsfĂ€higkeit versprach. Alles mag zusammenbrechen, aber ich kann etwas dagegen tun. Die Kommunisten entdeckten âdie Reichenâ als den Grund aller Probleme, die Faschisten âdie Judenâ, und beide entdeckten, dass sie eine Masse und damit ĂŒberlegen waren, wenn sie nur mobil wurden. Das Gewaltmonopol war bereits zum Teil unterhöhlt, und das âMobbingâ der erklĂ€rten Zielgruppe begann. Wer andere verachtet und sich von ihnen abgrenzt, gewinnt dadurch praktischerweise noch an eigenem IdentitĂ€tsgefĂŒhl hinzu, was zu diesen Zeiten zusĂ€tzlich ein Bonus war.
Und nachdem man erst einmal begonnen hatte und feststellte, dass das Gewaltmonopol des Staates keinen Widerstand mehr bot, stand der Massenvernichtung der âAnderenâ nicht mehr viel im Wege. Es ist bezeichnend, dass es ein gewissermaĂen schleichender Prozess war, wie es auch in Gruppen in denen Mobbing existiert hĂ€ufig ist.
Wenn wir an unserem mechanischen Weltbild festhalten, werden wir â wie es auch in der Medizin vorkommt – immer wieder SymptomtrĂ€ger eines PhĂ€nomens mit den tatsĂ€chlichen Ursachen verwechseln. Deswegen halte ich es fĂŒr so wichtig, eine Sprache, ein Vokabular zu entwickeln, mit der wir diese tatsĂ€chlichen Ursachen auch beschreiben und verstehen können. Wir haben zwar zahlreiche Erkenntnisse auf dem Gebiet der Psychologie, Soziologie, Systemtheorie etc., aber eine VerknĂŒpfung dieser Erkenntnisse zu einer universalen sozialen Theorie, die auch fĂŒr einen Laien ohne Supercomputer hilfreich sein kann, steht noch aus.
Die groĂe Leistung eines Adolf Hitler war es, eine ErklĂ€rung fĂŒr die Misere der Massen anzubieten und sie zum Handeln zu mobilisieren, wĂ€hrend andere sich vor der KomplexitĂ€t der Situation fĂŒrchteten und keine Alternative anboten. Wer verzweifelt genug ist, und er sieht nur eine einzige Handlungsalternative, der wĂ€hlt diese, egal was die Konsequenz ist.
Wer eine âWiederholung der Geschichteâ vermeiden will, sollte also meiner Ansicht nach lernen, komplexe soziale Systeme und ihre ZusammenhĂ€nge zu verstehen, um dort, wo âeinfache Lösungenâ populĂ€r werden, eine Vertrauen erweckende Alternative parat zu haben, die nicht zur Katastrophe fĂŒhrt.
Zur âLage der Nationâ in Ăsterreich

“Ich bin fĂŒr mehr direkte Demokratie!”
(solange wir mehr sind als die)
Warum hat die FPĂ in Ăsterreich (und viele Ă€hnliche âextremereâ AusprĂ€gungen des politischen Spektrums weltweit) in Wahlen deutlich zugelegt? Ich glaube, das liegt daran, dass sie sich in ihren GrundzĂŒgen und ihrer offiziellen Zielsetzung  sehr stark an einem Familien-System orientiert. Andere Parteien, etwa die GrĂŒnen, bekennen sich zu mehr DiversitĂ€t und Integration und anderen klassischen Vorteilen eines Rechts-Systems. Ein steigendes Misstrauen in ein Rechts-System fĂŒhrt zu einem Umschwung im Wahlverhalten hin zu Parteien, die eher Familien-System-Themen aufwerfen und ansprechen. Wobei zu beachten ist, dass rein strukturell jede Partei in einer Demokratie unabhĂ€ngig von ihrer ideologischen Ausrichtung bereits Aspekte eines Familien-Systems aufweist.
Nun befinden wir uns weltweit in einer sehr unĂŒbersichtlichen Entwicklung, was sich in den letzten Jahren unter Anderem anhand der Asyl-Thematik gezeigt hat. Massen von Menschen haben sich zwischen Staaten bewegt, und im Grunde war in vielen FĂ€llen unklar, ob dies nun mit rechten Dingen zugegangen war oder nicht. Vermutlich wĂ€re ich (und auch sonst jeder) in der verantwortlichen Position genauso ĂŒberfordert gewesen, ich will hier niemandem etwas vorwerfen.
Wiederum befinden wir uns jedoch nun in einer Situation, die zu komplex erscheint, um sie in ihrer Gesamtheit deuten zu können, in der aber eine gewisse latente Angst und Unzufriedenheit in vielen Menschen brodelt. UnabhĂ€ngig von der tatsĂ€chlichen StĂ€rke des Rechts-Systems in Ăsterreich ist es heute einfacher denn je, Falschinformationen darĂŒber zu verbreiten, um das Vertrauen in die so wichtige Legitimation des Gewaltmonopols des Staates zu untergraben. Konstruktive ErklĂ€rungen und Handlungsalternativen zur Lösung der tatsĂ€chlichen Ursachen erscheinen rar bis nicht vorhanden, was Raum eröffnet fĂŒr neue âeinfache Lösungenâ im Sinne von Familien-Systemen.

“Den Charakter und Wert eines Menschen erkennt man, wie jeder weiĂ, unfehlbar am Ort seiner Geburt.”
MĂŒssen wir uns Sorgen machen?
Wenn wir den Unterschied zwischen Familien- und Rechts-Systemen als Muster akzeptieren können, dann glaube ich, dass wir zumindest aufhören sollten, unsere Energien in NebenschauplĂ€tzen zu vergeuden. Ich bin ĂŒberzeugt davon, dass sich in allen Parteien Menschen finden, die es auf ihre Weise gut meinen mit uns (sowie den einen oder anderen BetrĂŒger). Ein Kommentar eines FPĂ-Politikers ist nicht per se besser oder schlechter als der einer anderen Partei, und alle FPĂ-AnhĂ€nger gewohnheitsmĂ€Ăig als Nazis zu beschimpfen (wie ich es schon öfter erlebt habe) hilft uns nicht dabei, konstruktive Lösungen zu finden.
Die relevante Frage ist fĂŒr mich, der ich eine gesunde und bereichernde Vielfalt schĂ€tze, vielmehr: stĂ€rken wir die Grundfesten eines Rechts-Systems mit dem was wir tun, oder schwĂ€chen wir sie, und geben damit Familien-Systemen mehr Raum? TatsĂ€chlich dĂŒrfte es das Vertrauen in ein Rechts-System nicht gerade stĂ€rken, wenn zigtausende Menschen unkoordiniert und mit unklarem Rechts-Status ins Land einreisen. Der Grund dafĂŒr ist aber nicht, dass es sich ausnahmslos um schlechte Menschen handelt, sondern dass um eine solche Situation bewĂ€ltigen zu können wir auch entsprechende KapazitĂ€ten haben oder entwickeln mĂŒssen, damit im Rahmen eines Rechts-Systems umzugehen.
Es ist â wie weiter oben bereits erwĂ€hnt â durchaus zulĂ€ssig und mag zuweilen auch sehr sinnvoll sein, Familien-Systeme aufrechtzuerhalten, weil diese innerhalb eines Rechts-Systems funktionieren und auch wertvoll sein können. Bedrohlich wird es dort, wo das Familien-System das Gewalt-Monopol des ĂŒbergeordneten Rechts-Systems unterwandert und bedroht. Sind wir schon so weit gekommen? Es ist fĂŒr mich schwierig, dies zu ĂŒberblicken, was an sich bereits ein Alarm-Signal sein dĂŒrfte.
Die Unterscheidung zwischen Familien-Systemen und Rechts-Systemen trĂ€gt hoffentlich ein StĂŒck weit dazu bei, eine Art âFrameworkâ zu haben, mit dessen Hilfe sich die Situation in einem Staat, einem Team oder auch einer Schulklasse besser beurteilen lĂ€sst. Die Geschichte wiederholt sich erfahrungsgemÀà nie exakt gleich, aber Ă€hnlich wie in der Medizin wiederholt sich das Auftreten einer “Krankheit” in verschiedenster Formen meist zumindest so lange, bis wir zu unterscheiden lernen zwischen einer oberflĂ€chlichen Symptombehandlung und der BekĂ€mpfung der tieferliegenden Ursachen. Vielleicht sind wir diesen mit der Unterscheidung zwischen Familien-Systemen und Rechts-Systemen einen Schritt nĂ€her gekommen. Zu hoffen wĂ€re es.
Niklas