Hallo, kleine Pflanze, die du da so unverschämt aus der Ritze lachst.
Hast du dich, als Same noch, gefragt, wo du wohl landen wirst auf deiner Reise? Ob du Raum haben wirst, dich zu entfalten, ob die Nährstoffe reichen werden, die Versorgung mit dem lebenswichtigen Wasser?
Oder hast du, todesmutig, es einfach darauf ankommen lassen? Hast dich der Welt anvertraut, in dem Glauben, der Hoffnung, dass es gut sei, wie es eben sei?
Da sind kleine Wassertröpfchen auf dir, kleine Pflanze, die glitzern in der schwächer werdenden Herbstsonne. Nascht du von ihrem kühlenden Nass, wie es dir am besten bekommt, oder rationierst du deinen kostbaren Besitz bis zum nächsten Regenschauer?
Da sind sanfte Winde, in denen du dich wiegst, als wäre dir deine Position im Leben relativ egal, solange du nur fest verwurzelt bist.
Deine Farben entsprechen so gar nicht jenen deiner Brüder rund um dich, doch das scheint dich nicht groß zu kümmern. Du wächst in der Nische, die du dir gefunden hast. Und dort, am Kreuzungspunkt, an dem du dich befindest, bist du Königin.

Weißt du denn, dass wir Menschen die Angewohnheit haben, Emporkömmlinge wie dich nicht allzu lange zwischen der strengen Ordnung unserer Bauten zu dulden? Dass deine bloße Existenz von vielen von uns als Störung dieser uns so heiligen Ordnung wahrgenommen, kaum ertragen werden kann? Dass schon dadurch, nicht nur durch die Tatsache des herannahenden Winters, deine Tage gezählt sein werden, auch wenn ich selbst deine erhabene Schönheit anerkenne?
Weißt du, dass du sterben wirst, und dass deine Entscheidungen jenen Zeitpunkt beeinflussen könnten? Kümmert es dich? Und falls nein, kannst du mich lehren, mir ebenso wenig darum Gedanken zu machen?

Denn einst war ich jung, dir ähnlich, meiner Intuition folgend König meiner eigenen Nische. Dann wurde ich entwurzelt, umgepflanzt. In eine Umgebung, die mich lehrte, aus der Vergangenheit mögliche Zukunft abzuleiten, um zu überleben. Ich überlebte, aber etwas Wichtiges ging mir verloren. Nun, selbst unter anderen, freundlicheren Bedingungen, finde ich nicht mehr zurück in mein kindliches Urvertrauen. Muss, wie ich nach einigen gescheiterten Versuchen des Zurückkehrens anerkennen lernte, voranschreiten statt zurückschauen. Nun, verändert, wieder neu vertrauen lernen, mit jeder möglichen Zukunft umgehen zu können, statt aus Erfahrung zu wissen, was die Zukunft bringen wird, und versuchen, sie in meinem Sinne zu beeinflussen.

Ich bin wenig bewandert in Pflanzenkunde, aber es sieht so aus, als ob du kaum je größer als ein kleines Buch werden wirst. Und doch strahlst du jene sonderbare Größe aus, die diejenigen zu umgeben pflegt, die in dem ihren Raum Erfüllung finden.

Nun ist ein Marienkäfer herangeflogen, und hat es sich an der Wand gemütlich gemacht. Er gehört uns nicht, und doch gehört er irgendwie zu uns, nun, da wir ihn entdeckt, anerkannt haben. Er wird nicht bleiben, die Begegnung wird flüchtig sein, und doch hat seine Anwesenheit mich im Jetzt berührt. Mich näher an den Ursprung zurückgebracht, von dem ich mich oft schon zu weit entfernt glaubte, um zurückkehren zu können. Hier, mit meinem Körper, habe ich ihn entdeckt. Jetzt, in diesem Moment, ist er hier, und ich mit ihm, bin mit ihm in einer kurzen, flüchtigen Beziehung.

Es wird schwieriger, diese Beziehungen herzustellen und aufrechtzuerhalten, je älter und damit gewissermaßen auch vermeintlich „wissender“ ich werde. Je mehr ich glaube zu wissen, desto schwieriger wird es, sich auf die Unbestimmtheit einzulassen, die authentisch neue Erfahrung gebiert. Man will ja immer alles schon gewusst haben. Schließlich ist man ja nun erwachsen. Da ist es ein bisschen peinlich, sich auf etwas einzulassen, dessen Ausgang man nicht vorhersehen kann. Man könnte sich ja zum Affen machen dabei. Hat sowas wie einen Ruf zu verlieren.

Ja, kleine Pflanze, du hast durchaus Recht: ich rede hier völligen Schwachsinn. Leider ist dieser Schwachsinn durchaus real, und wird gewissermaßen von uns erwartet. Hier bei uns Menschen wird man gefeiert und bewundert, wenn man immer die Kontrolle behält. Wer sich in unkontrollierte, unvorhersehbare Situationen begibt, der handelt dann „unverantwortlich“. Natürlich, wenn man alles gut übersteht, hat man danach gute Geschichten zu erzählen, dann wird man auch wieder bewundert, und hat plötzlich wieder ziemlich viele Freunde. Aber der Weg dorthin ist ein einsamer. Und wir Menschen, wir ertragen die Einsamkeit nicht sehr lange.

Du kannst uns eine reinhauen, du kannst uns hungern lassen, wir mögen vieles nicht. Aber was wir auf Dauer überhaupt nicht vertragen, ist die Einsamkeit. Mir machen die absurdesten Dinge, nur um uns nicht einsam fühlen zu müssen. Und weil sich das eben so durchgesetzt hat hier bei uns, versuchen die meisten von uns dann auch noch, andere dazu zu bringen, sich mit uns zu beschäftigen. Weil wir diese absurde Angst haben, dass die es niemals von sich aus tun würden, so dass wir sie eben „fremdsteuern“ müssen. Wir haben sogar Verträge erfunden dafür! Obwohl man glauben könnte, wenn ich dich, kleine Pflanze, einfach durch dein Da-Sein als wundervoll und wertvoll empfinden kann, sollten wir Menschen es doch auch bei anderen Menschen zusammenbringen.

Tatsächlich können wir das auch ganz gut, zumindest einige von uns. Aber dann haben wir doch Angst, dass es vielleicht nur im Moment so ist, und was ist dann mit morgen? Da brauchen wir ja auch Liebe und Anerkennung! Darum lieber vorsorgen, schauen, wie wir sicherstellen können, dass es auch morgen so weitergehen wird. „Glücklich bis zum Ende aller Tage“ nennen wir das dann. Ja, natürlich ist das in etwa so unsinnig, wie sich ein ganzes Jahr lang nur Sonnenschein oder nur Regen zu wünschen, das ist weder wachstumsfördernd noch besonders interessant. Aber wir machen das trotzdem so. Ich habs ja auch probiert. Wenn es alle machen, hab ich mir gedacht: wär ja seltsam, wenn das nicht zumindest ein bisschen sinnvoll wär. Können ja nicht alle deppert sein.

Nur leider, kleine Pflanze, war ich dadurch nur noch ziemlich selten „da“. Ich war ständig irgendwo in der Vergangenheit, um zu lernen, die Zukunft besser einschätzen und damit steuern zu können. In der Zukunft, um da entsprechend die Fäden zu ziehen. Oder im Geiste irgendwo, wo ich mal war oder noch hinkommen wollte. „Da“, also im Hier und Jetzt, war ich mit der Zeit immer seltener. Das fiel mir  nicht einmal groß auf, weil auch alle anderen kaum je „da“ waren. Das war nicht nur „normal“, das war sogar gewissermaßen angesehen, ein untrügliches Zeichen für Wichtigkeit. Und da Ansehen, Gesehen werden und geliebt werden sich schon ein bisschen ähnlich anfühlen, erschien es für eine Weile durchaus sinnvoll, da mitzumachen.

Tja, kleine Pflanze, und nun sitze ich da vor dir, und denk mir, das ist eine der schönsten Begegnungen der letzten Monate. Hab dich ja schon öfter gesehen und mir gedacht, dass du irgendwie etwas Besonderes bist. Aber wer selten „da“ ist, hat auch kaum je Zeit dafür, jemanden wie dich kennenzulernen. Der muss dann eben auch nehmen, was kommt und in dem engen Zeitkorsett, das übrig bleibt, Platz findet. Was sich auch langfristig gut in den Zeitplan einordnen lässt. Was nicht passt, wird entweder passend gemacht, oder eben verworfen. Langfristig denken, sich etwas aufbauen und so, du weißt schon. Oder vielleicht auch nicht? Vielleicht ist das dein Geheimnis?

Gestern, kleine Pflanze, hatte ich einen seltsamen Traum. Ich war Beisitzer bei einer politischen Besprechung, und plötzlich meinte einer der eigentlichen Akteure, er wolle mit mir Platz tauschen. Ich sei geeigneter als er, in dieser Position zu sein. Anfangs zögerte ich: wer war ich schon, reale Macht auszuüben, was waren meine Ansichten schon wert? Aber selbst die Politiker der anderen Fraktionen ermunterten mich. Mit mir würden sie gerne zusammenarbeiten wollen. Also setzte ich mich auf den mir angebotenen Platz. Und mit einem Mal konnte ich fühlen, wie richtig es war, auf jenem Platz angekommen zu sein. Hier war der Raum, den auszufüllen mir bestimmt war. Als ich nach dem Aufwachen einer Freundin davon erzählte, meinte sie, ich würde nun endlich aufhören, im Publikum meines eigenen Lebens zu sitzen, und lernen, mich selbst ins rechte Licht zu rücken.

Was würde ich ändern wollen, nun, da ich symbolisch „an die Macht gekommen war“? Nun, vielleicht würde ich die fatale Idee hinterfragen und ein bisschen aufweichen wollen, dass man die Zukunft aus der Vergangenheit abzuleiten vermochte. Ein bisschen mehr Spielraum gewähren, Entscheidungen ergebnisoffen zu treffen, selbst wenn sich diese im Nachhinein als Fehler herausstellen sollten. Die Zeit schenken, dieses Nachhinein auch abwarten zu können, bevor der Begriff „Fehler“ überhaupt verwendet wird. Und die Entscheidung darüber, was richtig und was falsch gewesen sei, dort, wo es nicht anderweitig zwingend notwendig ist, bei den jeweils Betroffenen zu belassen, anstatt aus allem einen Staatsakt zu machen.

Wäre das eine Welt, in der du gerne leben würdest, kleine Pflanze? Ich vermute, dir wird die Welt der Menschen ein Stück weit egal sein. Du bist besser darin als wir, einfach drauf los zu leben und die Konsequenzen deiner Handlungen stillschweigend zu ertragen. Aber vielleicht… und nur vielleicht… würdest du dann hier in deiner Ritze auch länger weiterleben dürfen und nicht ausgerupft werden. Denn auch wenn du die Ordnung der Fliesen auf dieser Terrasse stören magst, und schon gar nicht eingeplant warst, als diese Terrasse gebaut wurde:

So, wie du bist, bist du wunderschön.

Im hier.
Im Jetzt angekommen.
Kann ich endlich wieder fühlen:
Ich bin es auch.

Da stand er nun vor den Ruinen seiner Arbeit.
Jahre, die er in den Aufbau einer Infrastruktur der Hoffnung gesteckt hatte, waren dahin. Das Erdbeben, das große Teile des Landes völlig verwüstet hatte, hatte auch ihn, der zu dem Zeitpunkt Tausende Kilometer entfernt gewesen war, zutiefst erschüttert. Man sagte, dass es eine der schlimmsten Erfahrungen sei, die ein Menschen erleben konnte: den Boden unter den  Füßen zu verlieren.  Er war nicht anwesend gewesen, als es passierte. Aber der rettende Boden, der war ab jenem Zeitpunkt auch für ihn in weite Ferne gerückt gewesen.

Und so hatte er sich eine Weile treiben lassen. Hatte Zuflucht, hatte Heimat gesucht in Orten, Menschen, Substanzen, und nur manchmal auch gefunden. Hatte mit dem Boden auch sich selbst verloren geglaubt.

Bis er einige Zeit später wieder jenen Boden betrat, der ihm einst Sinn eröffnet hatte. Die Erde hatte sich beruhigt, wie auch sein Innerstes wieder mehr zur Ruhe gekommen war. Es war etwas Besonderes an diesem Ort zu finden, das ihn nun erneut zu sich rief. Etwas, das er beinahe verloren geglaubt hatte, zerstört im Chaos der bebenden Erde. Und nun, Jahre später, konnte er erneut erahnen, warum er sich damals auf den Weg hierher gemacht hatte. Vieles war in dem Beben zerstört worden, aber dies waren nur äußere, vergängliche Formen gewesen. Etwas Tieferes, Wichtigeres, Ewiges war geblieben.

Die Menschen hier hatten nach den heimatlichen Standards nichts. Und doch waren sie glücklich.

Das hatte er vor vielen Jahren dem Jüngeren erzählt gehabt, der seinerseits seiner Wege ging, das Amulett wie die Führung des Älteren nah an seinem Herzen. Sie sahen sich nur noch selten. Und doch war auch hier eine Resonanz spürbar, ein Beben, das Worte transzendierte.

Die Menschen dort, nach all der Zerstörung, die waren immer noch so glücklich, erzählte er nun dem Jüngeren, der sich lächelnd an die damaligen Worte des Älteren erinnerte. Und sie haben sich an mich erinnert, auch als von der Arbeit meiner Hände nichts mehr übrig war.

Der Jüngere schwieg, weil seine Worte nur ungenügend ausdrücken konnten, was er als Wahrheit in sich erspürte: Weil diese Menschen, die dich so faszinieren, weise sind. Sie wissen, dass alles Geschaffene wieder vergehen wird, und hängen daher ihr Glück nicht an Vergängliches. Wer nie vergisst, dass nichts selbstverständlich ist, freut sich über jede kleine Annehmlichkeit, und trauert keinem Verlust allzu lange hinterher. Sie erinnern sich nicht an dich, weil sie jetzt die Infrastruktur, die du aufgebaut hattest, nutzen können (die durch das Erdbeben zerstört wurde, was zeigt, wie vergänglich sie war). Sie erinnern sich nicht an das Ergebnis deiner Arbeit, sondern daran, dass du ihnen mit deiner Arbeit dienen wolltest. Du dienst ihnen nicht, wenn du dein eigenes Glück oder deinen eigenen Selbstwert daran hängst, was mit dem Ergebnis deiner Arbeit geschieht. Du dienst ihnen, wenn du ihnen dienst, und damit deine Liebe ausdrückst.

Um all dies klar und unmissverständlich auszudrücken, fehlten dem Jüngeren die Worte, fehlten ihm die notwendige Weisheit. Aber es gab andere Worte in ihm, die nach Ausdruck verlangten.
„Du hast mich auf meinen Weg gebracht“, sagte er zum Älteren. „Du bist einer von vielleicht drei Menschen, die mich in meinem Leben am meisten geprägt haben.“
„Du hast mir geholfen, auf meinem Weg zu bleiben, und zurückzufinden, wenn ich ihn verloren habe“, sagte der Ältere zum Jüngeren.
Und dann umarmten sie sich und schwiegen, weil es nichts mehr zu sagen gab, das nach Worten verlangte.

Das Amulett hatte er längst verloren. Es war nicht mehr notwendig.
Auch so spürten sie die starke Resonanz zweier Herzen, die Gefährten geworden waren, auf Wegen, die sich in ihren Verstrickungen unterscheiden mochten, aber im Endeffekt doch demselben Ziel zustrebten.

Welchem? Das erschien weniger wichtig, als den Weg zurückzulegen, der sich stimmig anfühlte, und sich gegenseitig dabei zu unterstützen, den jeweils nächsten notwendigen Schritt zu setzen.

Waren nicht, im Endeffekt, genau dafür wahre Freunde da?

„Ich will gerade nicht mehr darüber sprechen“, meinte sie, und am anderen Ende blieb es tatsächlich still. Die Pause zog sich in die Länge, die Worte wollten sich nicht bilden. Atem besetzte die Leitung.

„Ich möchte dir etwas Seltsames beschreiben“, setzte er an, hoffend, durch eine Einleitung in Fluss zu kommen, „Je mehr ich dir zugehört habe, desto weniger konnte ich etwas fühlen.“
„Weißt du, ich glaube, wir sind uns da in unserer Verletzung sehr ähnlich.“

Plötzlich kehrte das Gefühl in seinen Körper zurück. Schmerzhaft.
„Ich glaube, du hast Recht“, murmelte er nachdenklich, „der einzige Unterschied war – “
Die Leitung war tot. Verzweifelt drückte er die Anruftaste. Noch einmal. Es hatte keinen Zweck.

Rationale Nachdenklichkeit wich zunehmend emotionaler Betroffenheit. Warum musste die Verbindung auch gerade jetzt abbrechen? Rastlos bewegte er sich in der Wohnung umher, setzte sich, stand wieder auf, nahm ein Buch zur Hand, las ein paar Zeilen, versuchte es noch einmal bei ihr, gab es auf. Fing an, Ordnung in der Wohnung zu schaffen, um sich zu beschäftigen, abzulenken.

Ich glaube, wir sind uns da in unserer Verletzung sehr ähnlich, hatte sie gesagt. Welche Verletzung? Es war doch normal, dass junge Erwachsene ab einem gewissen Alter unabhängig von ihren Eltern wurden, auf eigenen Beinen standen. Was hätte ihn daran verletzen sollen?
Du hast den Schock des Eintritts in das Arbeitsleben noch nicht ganz überwunden. Wann hatte er diesen Satz gehört, und warum zerrte er gerade dermaßen an seinem Bewusstsein? Warum Schock? Warum Verletzung, bei einem so natürlichen Übergang in die Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit?

Selbstbestimmtheit! Zeit ihres Lebens hatte man ihnen erklärt, sie müssten sich anstrengen im Leben, gute Noten nach Hause bringen, um irgendwann einen guten Job zu ergattern, genug zu verdienen, um sich keine Sorgen machen zu müssen. Und nun? Bei einem Tag mit acht Stunden Schlaf, zwei Stunden für Nahrungsaufnahme und Hygiene, acht Stunden Arbeit und eine Stunde Zeit für den Transport von und zur Arbeit waren die restlichen fünf Stunden „freier“ Zeit auch schon beinahe vernachlässigbar. Und erst das, was man gemeinhin „Urlaubszeit“ nannte: im Durchschnitt ganze fünf Wochen im Jahr, und selbst über diese Zeit durfte man im Regelfall nicht frei verfügen. Und was bekam man im Gegenzug dazu? Solange man sich diesen Bedingungen beugte, durfte man – meist – hoffen, auch im nächsten Monat und Jahr unter ähnlichen Bedingungen geduldet zu sein. Und hatte man gut gearbeitet, hatte man sich den Feierabend oder Urlaub „verdient“, hatte man sich einen Bruchteil der Zeit, die man auch ohne Arbeit zur Verfügung gehabt hätte, wieder „erarbeitet“. Welch Irrsinn so ein „normales“ Arbeitsleben im Grunde doch war, war die Grundbotschaft doch im Grunde ein „Sei, wie andere dich haben wollen, dann darfst du sein“.

„Was willst du einmal werden, wenn du mal groß bist?“ war man gefragt worden, und stolz, mit Hoffnung im Herzen, hatte man geantwortet, man werde Arzt, Techniker, Lehrer, Schriftsteller. Kinder wussten noch nichts über das große Theater, das sich Arbeitswelt nannte. Die meisten wurden am Ende irgendeine Variation der üblichen Schauspieler und spielten ihre Rollen, ob sie sich nun Buchhalter, Arzt, Lehrer oder Marketing-Mitarbeiter nannten, bis sie im Alltag vergessen konnten, dass es auch hinter den Rollen einst noch etwas Eigenständiges gegeben haben musste. Die nachdenklicheren unter ihnen schlitterten von Depression zu Depression oder vegetierten als Aussteiger dahin, die Anpacker-Typen bereiteten sich länger auf die große Krise mit 50 vor oder hatten das zweifelhafte Glück, vorher abzukratzen, bevor sie erkennen konnten, wie wenig der so einzigartigen Chance, die sie ironischerweise „ihr Leben“ nannten, sie am Ende für die Erfüllung ihrer eigenen Träume genutzt hatten. Welch geringen Unterschied ihre Existenz, ihre besondere Perspektive am Ende gehabt hatte, weil für diese Welt nur zählte, wie gut man seine Rolle spielte, nicht was man in und außerhalb der Rollen wahrnahm und mitzuteilen hatte.

Die Wunde, die Ursache für den Schock war nicht die Realität an sich gewesen, sondern dass sie es gewusst haben mussten. Dass sie jungen Menschen Hoffnung einflößten auf ein Leben als selbstbestimmter „Erwachsener“, wohl wissend um ihre eigene Unfreiheit. Wir sind euch gefolgt, dachte er erschüttert, wir sind euch vertrauensvoll gefolgt, weil wir dachten, ihr hättet den Weg der Freiheit beschritten. Dabei habt ihr euch nur tiefer in Unfreiheit begeben, um eine Illusion für uns aufrechtzuerhalten. Vielleicht dachtet ihr ja wirklich, wir würden es einmal besser haben. Dass sich das Versprechen, dass man euch als Kind gegeben hatte, zumindest für eure eigenen Kinder erfüllen würde, wenn die Welt es für euch schon nicht halten wollte. Nein, ihr habt uns nicht absichtlich getäuscht, unsere Wut richtet sich nicht gegen euch. Sie richtet sich gegen die Alternativlosigkeit, die ihr uns hinterlassen habt, weil ihr am Ende auch nicht wusstet was sonst.

Sein Handy klingelte, ihr Akku war wohl wieder aufgeladen.
„Es tut mir Leid, es liegt nicht an dir, dass ich darüber so schwer sprechen kann“, meinte sie, „aber bei dem Thema werde ich so dermaßen traurig und wütend, das will ich nicht an dir auslassen.“
„Und deswegen schweigen wir darüber?“
„Deswegen schweigen wir darüber.“
Doch dieses Mal drängten sich Fragen in ihm auf.
„Was, wenn wir uns der Wunde stellen würden?“
„Dann stellst du dich nicht nur deiner eigenen Wunde. Was glaubst du, was ich die letzten zehn Jahre deswegen alles durchgemacht habe? Menschen verbluten lieber innerlich, als das Blut sehen zu müssen. Wenn du das Schweigen brichst, reißt du überall um dich schlecht verheilte Wunden auf.“
„Also geben wir die Wunde weiter, verstümmeln irgendwann auch unsere eigenen Kinder?“
„Bist du bereit, die Konsequenzen zu tragen, wenn du es nicht tust? Bist du auf die Einsamkeit vorbereitet, die mit der Entscheidung einhergeht? Können unsere Kinder die Konsequenzen tragen, wenn du es nicht tust?“
„Sie werden Vorbilder brauchen. Echte Vorbilder. Die es wirklich geschafft haben, einen anderen Weg zu gehen. Die sich nicht nur reicher, die sich nicht nur ein bisschen sicherer fühlen können, sondern die Wunde an sich heilen konnten.“
„Ich weiß nicht, ob es ein Heilmittel gi-“

Wieder war die Verbindung abgebrochen, doch dieses Mal fühlte er eine eigenartige Ruhe in sich. Beinahe hatte er das Gefühl, den sanften Fall des Schnees hören zu können. Trat auf den Balkon, genoss die plötzliche Kälte und die Stille der Winternacht.
Warum schweigen wir noch darüber?
Warum gehen wir noch die selben Wege?
Warum schlagen wir uns tagtäglich noch immer die selben Wunden?
Es war bereits dunkel, Menschen schliefen, bereiteten ihre Körper vor für einen weiteren Tag als Schauspieler im wohl absurdesten je geschriebenen Theaterstück. Beinahe hatte er die Schwelle zum Alltag seines Zimmers bereits wieder übertreten, da packte es ihn, und er trat noch einmal forschen Schrittes auf den Balkon. Fühlte, wie sich ein Schrei den Weg aus seinem Innersten bahnte, ein Weckruf für die Verschlafenen, die ihr Leben in dem so alltäglichen Dämmerschlaf der Normalität verträumten, nach all den Eindrücken und Verformungen eines Lebens endlich Ausdruck, Sichtbarmachung, zerschmettert der Mantel des Schweigens. Niemand schien ihn zu hören, aber darum war es auch nie gegangen. Deutlich fühlte er nun das Fließen von Blut aus der frisch aufgerissenen Wunde in seinem Inneren, die seit fast zehn Jahren in ihm eiterte, schwärte und ihn schleichend vergiftete.
Es war zu spät, sie noch einmal anzurufen, deswegen tippte er stattdessen eine Nachricht:
Wenn es irgendwo in dieser Welt Heilung gibt, schrieb er, dann werden wir sie finden.

Zum ersten Mal seit Jahren schlief er wieder tief und vertrauensvoll, wie ein Kind.

Wie schnell es manchmal gehen mag
Die Fragen falsch zu stellen
Was hell ist, zu ergrellen
Bis blind wir alle sind
Die Namen sind gerufen
Sie fühlen sich berufen
Und geben ihren Rat

Wie schnell es manchmal gehen mag
Die Liebe wirft schon Schatten
Kalt, kälter wird der Atem
Wir bauen Kathedralen
Herrlich auszumalen
Kommen feierlich, zu beten
Geh‘n leise, schuldig, und betreten
Wir wohnen  nicht mehr hier.

Wie schnell es manchmal gehen mag
Sich völlig zu verlieren
In zweien, dreien, vieren
Bis einsam wir uns wiederfinden
Erinnern uns der Lieder
Doch die Herzen schweigen wieder
Hat wohl nicht sollen sein

Wie schnell es manchmal gehen mag
Sich Zukunft auszumalen
Mit Worten, Geist und Zahlen
Sich in Zukunft zu verlieren
Nur Vergangenheit zu spüren
Hör die Gegenwart, sie spricht:

Halt ein, du Wanderer auf Zeit
Lass hinter dir der Zukunft Eitelkeit!
Hör, was mein Moment dir spricht
Getrau dich, schau mein Angesicht!
Ich bin die Wahl, die du gern fliehst
Bin Potential, das du nicht siehst
Der Mensch – ein Läufer – läuft geschwind
Was kümmert’s ihn, wohin er ging?
Nun, wenn er will, so soll er leiden
Wer bin ich, Mensch, ihn dir zu neiden
Den Augenblick, den ich dir schenke
Nütz ihn, lass ihn, fühle, denke –
Schenke, teile, liebe, gebe
Ruhe, schlafe, müh dich, strebe
Am Ende: alles einerlei
Irgendwann bin ich vorbei

Wie schnell es manchmal gehen mag
Für einen Augenblick zu spüren
Was für Leben wir so führen
Welche Opfer wir erbringen
Welch‘ Gefühle wir bezwingen
Weil wir glauben, dass wir sollten
Vielleicht auch glauben, dass wir wollten
Hab‘n wir uns doch “längst entschieden”
Und so geschickt den Augenblick vermieden

Wie schnell es manchmal gehen mag
Die Fragen neu zu stellen
Und bangend Herzen zu erhellen
Das Licht zieht Motten an
Sie fühlen sich berufen
Solch Liebe zu verfluchen
Und geben ihren Rat
Doch Liebe ist und bleibt
Ein Akt der wiederkehrend Tat

Abends, gegen neun, an der Donaulände, mit den Fingern über die Saiten streichelnd, sanfte Schwingungen in die windstille Luft zaubernd. Würde ich ihn abweisen, ihn, der mich – etwas schüchtern – bittet, sich zu mir setzen zu dürfen, nichts mehr von mir und meinesgleichen erwartend? Ob ich denn etwas gegen Syrer habe, fragt er, einen Rest Körperspannung aufrechterhaltend, gerade genug, sich im Notfall rasch außer Reichweite zu bringen, sich dann erleichtert neben mir niederlassend, als ich verneine und ihn verwundert ansehe. Schlechte Erfahrungen graben tiefe Gräben. Lehren Misstrauen.

Er beginnt zu erzählen, immer wieder unterbrochen durch die bange Frage, ob er mich belästigen würde, um dann erleichtert fortzufahren. Erzählt von seiner Familie, seinem Sohn, den Prüfungen Allahs in diesem ihm so fremden Land, die ihm das Herz schwer werden lassen. Den letzten Rest des Geldes habe er zusammengekratzt, um irgendwie hier anzukommen – nun muss er tagtäglich darum kämpfen, die siebzehn Euro für die Übernachtung in Traun zusammenzukratzen. Er hofft auf eine Arbeit, irgendeine Art von Arbeit, putzen, kochen, egal. Fürchtet, die siebzehn Euro eines Tages nicht zusammenzubringen. Die Unterkunft bietet ohnehin kaum mehr als einen Unterschlupf: kein Strom, immerhin jedoch fließendes Wasser. Ohne Unterkunft ist es schwer, Körperhygiene aufrechtzuerhalten, und ohne Hygiene kein Job. Ohne die Aussicht auf einen Job keine Hoffnung.

Immer wieder kontrolliert er auf seinem Smartphone die Uhrzeit, bittet mich um eine Kontrollmessung. Ab 21:00 darf er sein Fasten brechen, die Überreste der Mahlzeit eines freundlichen Herrn, der sie ihm vor einigen Stunden überlassen hat, essen. Es sind nur wenige Bissen und er ist ein kräftiger junger Mann, trotzdem bietet er mir an, mit ihm zu speisen. Ich nehme nach einigem höflichen Hin- und Her ein Stück Ente und lasse ihm den Rest, möchte nicht, dass er an seiner Großherzigkeit verhungert. Unangenehm drängt sich die Erkenntnis auf, dass ich ungleich ihm jederzeit nach Hause gehen kann, wo ein voller Kühlschrank, ein warmes Bett und freundliche Menschen auf mich warten. Trotz der unübersehbaren Unterschiede unserer Lebenssituationen bewahrt er ein erstaunliches Ausmaß von Würde. Für einige wenige Stunden verblasst die materielle Wirklichkeit, und wir begegnen uns in einer Tiefe, wie sie nur im Vergänglichen erfahrbar wird.

Er sei enttäuscht von der Gesellschaft hier, erzählt er. In seiner Heimat werde niemand, der an die Tür einer Moschee klopft und hungrig um Hilfe bittet, abgewiesen. Hier in Linz hat er im Umkreis von einem Kilometer an sechs Kirchen geklopft – in manchen Fällen blieben die Türen verschlossen, in anderen wurde er beschimpft, er solle sich wegscheren. Man muss nicht Deutsch können, um Abneigung zu verstehen. Ich erzähle ihm, die Kirchen hier in Linz seien schon etwas älter, stammen aus anderen Zeiten. Sein Gesichtsausdruck sagt mir, dass er bereits Ähnliches vermutet hat. Das Gesetz der Gastfreundschaft seiner Heimat wurde hier längst privatisiert, auf den jeweils anderen projiziert, bis es von der Regel zur Ausnahme einer neuen Regel der Selbstbezogenheit wurde. Doch im Grunde, so führt er weiter aus, brauche er die Gesellschaft und ihre „Segnungen“ auch gar nicht. Ein Stück Land, auf dem er in Frieden mit seiner Familie wohnen und es bebauen könne, das wäre sein Traum.

Dafür jedoch brauche er als ersten Schritt die 18 Euro für ein Zugticket nach Wien, die er sich stückweise jeden Tag zusammensparen will. Dort in Wien wohnt ein weiterer Syrer, ein Jugendfreund, der sich mit einem Kebabladen selbstständig gemacht habe. Dort könne er sicherlich arbeiten, im Notfall schwarz, da er keine Dokumente bei sich hat. Ich mache ihn darauf aufmerksam, dass diese Art von Abhängigkeitsverhältnis für ihn gefährlich werden könnte, aber er winkt ab, es sei ein Jugendfreund, in Syrien sei das anders. Ich sehe, dass es möglicherweise die letzte Hoffnung ist, an die er sich klammert. Ich gebe ihm das Geld für die Zugfahrt, spürend, dass es ihn Überwindung kosten wird zu fahren, die letzte Hoffnung einem Realitätscheck zu unterziehen.

Es ist kühl geworden, und dämmrig, er macht sich auf, den letzten Zug nach Traun zu erwischen. Ich schenke ihm meine Jacke, die ich vor Jahren auf Reisen gekauft habe und die mich seither begleitet hat. Mir wird nicht kalt werden, und ich möchte, dass er die Wärme unserer Begegnung weiter spüren kann. Sie soll sein Herz wärmen, wenn die Umgebung es nicht vermag. Er mag naiv sein, aber er wirkt mir wie ein herzensguter Mensch. Er erklärt mir eine islamische Verabschiedungsformel, wir umarmen uns, und er geht aus meinem Leben.

Mein rationaler Verstand weiß, dass es eine Grenze des Möglichen gibt, und dass diese Grenze gewahrt werden muss. Doch wenn wir einem Menschen tatsächlich als Menschen begegnen… Ich ahne, warum wir zu unserem eigenen Schutz versuchen, Menschen wie ihn bereits an fernen Grenzen aufzuhalten, sie gesichtslose Nummern bleiben zu lassen. Und doch… hat die Begegnung Spuren hinterlassen, hat berührt, hat beschenkt, hat einen Namen und ein Gesicht.

Assalam Alaikum, Daniel.

Es war einmal eine kleine Blume namens Lunea Löwenzahn. Sie war sehr stolz auf ihren schönen Namen, den ihre Eltern ihr gegeben hatten, und war sicher, dass sie eines Tages so wunderschön blühen würde wie sie. Aber weil es draußen noch so kalt war, versteckte sie sich noch unter der Erde. Dort war es wohlig warm, und in dem kleinen Samen fühlte sie sich sicher. So verbrachte sie einen langen Winter. Du wirst sehen, hatten ihre Eltern-Blumen zu ihr gesagt, eines Tages kommt der Frühling, und dann wirst auch du so wunderschöne Blütenblätter haben wie wir. Aber erst wird es Winter sein, kalt sein. Du wirst dich fragen, ob es den Frühling überhaupt wirklich gibt. Doch keine Sorge: auch dein Frühling kommt bestimmt.

Lunea machte sich keine Sorgen über den Winter, so wohlig warm war ihr in ihrem Samenkern. Manchmal naschte sie von einem vorbeikommenden Regentropfen, der in die Erde gesickert war, und freute sich darüber, dass sie so schön beschützt war vor der Kälte. Eines Tages aber war auf einmal alles anders. Es war, als hätte sie etwas gekitzelt. Etwas kribbelte in ihr, ließ ihr keine Ruhe. War das der Frühling? Nun wurde sie neugierig. Ihr ganzes Leben hatte sie in dem kleinen Samenkern verbracht. Dort drin war sie beschützt vor der Welt da draußen. Aber nun, mit diesem seltsamen Kribbeln, fühlte sie sich auch ein bisschen eingesperrt. Es war auch so furchtbar wenig Platz hier drin! Und irgendwie war es auch langweilig. Lunea gähnte, streckte sich und plötzlich passierte es: der Samenkern platzte!

Sofort kugelte sich die kleine Blume wieder zusammen, aber es war zu spät – der schützende Samenkern war geplatzt, und jetzt war sie der Welt schutzlos ausgeliefert. Zusammengekugelt wartete sie ab. Sicherlich würde sie nun gleich sterben müssen, für ihre Ungeschicklichkeit bezahlen. Aber keine bösen Monster fraßen sie auf. Das einzige, was sie fühlen konnte, war eine ungewohnte Wärme, die sie so noch nie gefühlt hatte. War das die Sonne, von der ihre Eltern erzählt hatten? War das der Frühling?

Der Samenkern war nun nutzlos für sie geworden. Sie streckte sich ein wenig mehr und schüttelte ihn ab. Alles war plötzlich viel intensiver: die Wassertropfen und die Erde, an denen sie naschte, die Wärme, das Rumoren der vorbeigrabenden Regenwürmer. Ein unbändiger Drang erfasste sie, sich zu strecken, immer weiter, höher, zu wachsen! Einige Tage später durchbrach sie die Erde und atmete zum ersten Mal frische Luft. Es war fast zu viel für sie. So viel Grün und Blau und Rot und Gelb! In der Erde war ja alles dunkel gewesen. Und statt dem Rumoren der Regenwürmer hörte sie nun: Musik! Das Flattern der Schmetterlinge, das Zwitschern der Vögel, das Schreien der Kinder, die über die Wiese tobten. Vor allem aber: sie war nicht allein. Zum ersten Mal sah sie ihre Verwandten, all die Blumen in tausenden Formen und Farben. Da wurde ihr das Herz ganz warm, und plötzlich entdeckte sie, dass auch in ihr eine farbenprächtige gelbe Blüte steckte.

Da stand vor ihr ein Kind mit nachdenklichen Augen und streckte seine Hand nach ihr aus, um sie zu pflücken. Plötzlich bekam sie Angst, wünschte sich zurück in ihren Samenkern, wo es keine Hände gab, die nach ihr griffen. Was nutzten ihr all die Farben, all die Musik, all der Frühling, wenn der rasche Ruck einer Hand alles beenden konnte? Doch Lunea hatte Glück: das Kind überlegte es sich anders, rannte zurück zu den anderen Kindern, um mit ihnen weiter zu toben.

Es war Sommer geworden, Herbst. Erneut überfiel sie ein seltsames Gefühl. Sie fühlte sich träge, müde, wollte schlafen. Grau war sie geworden, Kinder hatte sie bekommen, und Samenkörner in alle Winde verstreut. An einem nebeligen Herbsttag erkannte sie, dass sie sterben würde wie der Frühling, der Sommer und ihre Eltern vor ihr. Für einen Moment wünschte sie sich, nie ihr Samenkorn verlassen zu haben, nie ihr Leben für einen Frühling gegeben zu haben. Es machte ihr Angst, sterben zu müssen, es machte sie traurig. Was, wenn sie länger gewartet hätte, auf einen anderen Frühling? Nein. Dies war ihr Frühling gewesen. Der nächste würde ihren Kindern gehören. Bestimmt fürchteten sie sich in ihren winzigen Samenkörnern, tief in der Erde, wie auch sie sich damals gefürchtet hatte.

Keine Angst, Kinder, dachte Lunea Löwenzahn, auch euer Frühling kommt bestimmt.

Vor ein paar Tagen schrieb ich hier über Klarheit und Autorität. Schon während des Schreibens wurde mir klar, dass der Begriff „Klarheit“ mehr als einen Artikel verdienen wird. Nun also zu Teil 2:

Die Lücken in der Kommunikation

Wie bereits im vorherigen Artikel beschrieben, basiert ein großer Teil unserer Kommunikation auf Annahmen, die unser Geist trifft. Anhand einiger Eckpunkte, die wir zu verstehen glauben, vervollständigt unsere Wahrnehmung das Wahrgenommene, um zu einem wahrscheinlichen Verständnis der Realität oder des Gesagten zu kommen. Kurz gesagt: je weniger wir tatsächlich wissen, desto mehr Arbeit hat diese Autovervollständigung. Nun stellt sich die spannende Frage, wie diese „Autovervollständigung“ denn eigentlich abläuft. Und hierbei scheinen zumindest zwei Phänomene zu wirken.

Das erste Phänomen ist jenes der Ähnlichkeit. Vorurteile, im Positiven wie im Negativen, fallen etwa in diese Kategorie. Ein Mensch, den wir noch nicht kennen, wird anhand einiger Kriterien, die wir wahrzunehmen glauben, mit unseren Erfahrungen mit ähnlichen Menschen verglichen. Dabei dürfte es ebenso eine sehr individuelle (und vermutlich ebenso auf vergangene Erfahrungen oder Glaubenssätze basierende) Auswahl der relevanten Kriterien geben, nach denen wir die anderen Menschen in Kategorien einteilen. So ist Abstammung und Migrationshintergrund für manche Menschen ein Top-Level-Kriterium, für mich weniger. Ich mag Menschen mit Dreadlocks oder die barfuß herumlaufen üblicherweise besonders gerne. Wie alle Vorurteile sind jene Urteile zumeist eher statisch und schwer zu ändern. Treffe ich einen Menschen mit Dreadlocks der mir unsympathisch ist, werde ich nicht alle Dreadlock-Menschen als unsympathisch ansehen. Lernt meine Uroma einen „Ausländer“ kennen, der „überraschend nett“ ist, wird sie nicht ihr Grundurteil über Ausländer sofort anpassen.

Das zweite Phänomen ist jenes der Emotionen oder Stimmungen. Je nachdem, wie ich mich fühle, interpretiere ich das Un-Gesagte anders. Ein klassisches Beispiel ist die Stille. Fühle ich mich von einem Menschen, den ich liebe, unverstanden, werde ich seine Stille anders interpretieren als wenn ich mich ihm sehr verbunden fühle. Interessanterweise können offensichtlich nur sehr wenige Menschen unterscheiden, welche Emotionen, die sie gerade fühlen, mit ihrem jeweiligen Gesprächspartner zu tun haben. Wenn ich beispielsweise Angst habe, meine Arbeitsstelle zu verlieren, werde ich die Worte und vor allem die Bedeutung zwischen den Worten eines Gesprächspartners anders interpretieren als wenn ich gerade eine Beförderung bekommen habe.

Vor- und Nachteile von Kommunikationslücken

Die beiden oben genannten Phänomene (und vor allem das zweite) werden durch unklare Wahrnehmung und Kommunikation verstärkt – wobei ich unter „unklar“ alles verstehe, was ich „nicht sicher“ weiß bzw. glaube zu wissen und wo diese „Autovervollständigung“ in Kraft tritt. Während die Folgen von Vorurteilen noch ein Stück weit vorhersehbar – weil stabil – sind, sind jene von Stimmungen es oftmals nicht. Im Grunde kann man aber zusammenfassend sagen, dass die Autovervollständigung in einer positiven Grundstimmung eher positive Geschichten über das Wahrgenommene erfinden wird als in einer negativen Grundstimmung und umgekehrt. Ich kann mich erinnern, dass ich als Kind versuchte zu „timen“, wann ich meiner Mutter von einer schlechten Note und wann ich ihr von einer guten erzählte – vermutlich kennen die meisten meiner Leser jene „Tricks“ in irgendeiner Form.

Tatsächlich könnte man sagen, dass unklare Kommunikation ein Stück weit das Risiko erhöht, dass sich der andere negative Geschichten vervollständigt – aber auch die Chance, dass er sich positive Geschichten vervollständigt, die uns in besserem Licht darstellen, als wir tatsächlich sind. Während klare Kommunikation versucht, nachvollziehbare, verlässliche und emotional neutrale Fakten zu schaffen, hofft unklare Kommunikation eher auf eine emotional positive Autovervollständigung.

Was dabei interessant erscheint, ist der Unterschied zwischen kurz- und langfristigen Folgen von klarer oder unklarer Kommunikation. Langfristig wird der Vorteil von zu positiven Geschichten üblicherweise aufgehoben durch die eher zu negativen Geschichten, die wir uns selbst in negativeren Phasen erzählen. Kurzfristig aber kann es durchaus von Vorteil für den Kommunizierenden sein, unklar zu kommunizieren, um die Fantasie des Gesprächspartners anzuregen, sich positive Möglichkeiten auszumalen. Etwa für einen One-Night-Stand, der am nächsten Tag vielleicht gar nicht mehr so schön wirkt – aber dann ist man ja schon weg… unklare Kommunikation kann auch ganz bewusst eingesetzt werden, um auf Reaktionen zu testen. Ein Freund erzählte mir etwa, er hätte im Fernsehen Angela Merkel beobachtet, die im Parlament sehr diffus gesprochen hatte und dann plötzlich sehr klar wurde – er meinte, sie hätte wohl herausfinden wollen, welche Variante klarer Ansagen bei ihrem Publikum besser ankommen würde, bevor sie klar wurde.

Klare Kommunikation in Institutionen fördern

In Institutionen hat man üblicherweise nicht nur eine Nacht, sondern mehrere Wochen, Monate bis Jahre miteinander zu tun, und die positiven Geschichten aufgrund von unklarer Kommunikation, die mit der Zeit auch mal in ihren negativen Widerpart umschlagen, „zahlen sich nicht aus“. Nicht nur gleichen sich Vor- und Nachteile mit der Zeit aus, der Fall von 150% toll zu 150% mies schmerzt auch mehr. Zudem erhöht sich die Ineffizienz der Kommunikation exponentiell mit der Anzahl der Mitarbeiter der Institution.

Was klare Kommunikation in Institutionen tendenziell fördern kann, ist die Schriftlichkeit wichtiger Kommunikation. So zwingt Schriftlichkeit zum Nachdenken über Formulierungen, erleichtert Transparenz und die Verbreitung von Kommunikationsergebnissen und ermöglicht es auch, zu einem späteren Zeitpunkt nachzusehen, was eigentlich beschlossen wurde. Allerdings ist es hierbei wichtig, sich eine der wichtigsten Lektionen der Etablierung des Internets als Kommunikationsplattform in Erinnerung zu rufen: nur weil mehr produziert wird, heißt das nicht, dass auch mehr gelesen wird. Es gibt ein individuell unterschiedliches, aber doch bei jedem Menschen vorhandenes Limit an Information, das er aufzunehmen bereit ist. Klare Kommunikation, die Unwichtiges weglässt, kann helfen, aber auch ehrlich darüber zu sprechen, ab wann es schlicht „zu viel“ ist. Wenig ist so problematisch als die Situation, dass ein jeder fleißig Informationen verschickt und niemand darüber spricht, dass sie nicht gelesen wird. So glauben alle, dass alle wissen, aber wissen nicht, dass kaum jemand weiß. Schlecht.

Ein zweites großes Problem, das in schriftlicher Kommunikation auftreten kann, ist, dass alle glauben, dass sie sich einig sind, es aber nicht sind. Schulkonzepte freier Schulen sind dafür besonders anfällig: um niemanden der Gründer und Unterstützer zu verlieren, wird so lange daran herumgefeilt, bis alle zufrieden mit den Formulierungen sind und alle sich darin „wiederfinden“, eine Umschreibung für „jeder kann darin seine Ansichten sehen und glaubt, dass sie völlig klar sind“. Wenn sich dann unterschiedliche Ansichten in der Praxis zeigen, kann jeder darauf verweisen, dass es „im Konzept völlig anders steht“. Wenn sich zwei Menschen, die einem Konzept zugestimmt haben, darüber streiten, ob es auch so umgesetzt wird wie da drin steht, ist die Chance groß, dass das Konzept unklar formuliert wurde. Klarheit würde bedeuten, dass sich beide sehr rasch einig werden könnten, ob das der Fall ist oder nicht, und zwar an konkreten Kriterien, die beide bewerten können.

Aber da an freien Schulen tendenziell gerne friedliebende Menschen zusammenkommen die nicht allzu gerne streiten, wird da beim Schreiben des Konzepts gerne die Feel-Good-Variante präferiert – was in der Gründungsphase meist noch gut gehen kann, aber in der Praxis zu eigentlich vermeidbaren Katastrophen führt. Während der Aufbruchsstimmung der Schulgründung werden die Lücken im Konzept noch hoffnungsvoll autovervollständigt – in der Praxis, unter Druck, kann davon nicht mehr ausgegangen werden. Die Menschen, die es in friedlichen Zeiten vermieden haben, klare Formulierungen zu finden (mit allen Konflikten, die das mit sich bringen kann), werden sie nun, in einer Atmosphäre des Misstrauens, damit anfangen?

Zusammengefasst könnte man sagen, dass unklare Kommunikation den Interpretationsspielraum des Gesprächspartners öffnet, während klare Kommunikation die Autovervollständigung entlastet. Je mehr letztere in Aktion tritt, desto mehr erhöhen sich die Chancen, dass etwas extremer wahrgenommen wird als in einer klaren Kommunikation. Dies kann einem Menschen in kurzfristigen Bekanntschaften egoistisch betrachtet sogar „mehr bringen“ als klar zu kommunizieren, der Effekt hebt sich jedoch langfristig auf bzw. wird vor allem in Beziehungen mit mehr als zwei Menschen (wie in Institutionen) von anderen problematischen Effekten begleitet.

Dies war der zweite Teil meiner kleinen Serie zum Thema Klarheit und Kommunikation. In Kürze folgt – hoffentlich – Nummer drei.

Niklas

Jetzt sitzen wir also da, wir zwei. Auf dieser dämlichen Stiege, während immer wieder einige Besoffene an uns vorbeitorkeln und mehr oder weniger erfolgreich ihren Weg gehen. Du sitzt hinter mir. Hältst mich. Weißt, spürst wohl, was gleich passieren wird. Geh weg. Wenn du es weißt, dann geh doch weg hier. Es gibt hier nichts zu sehen.

Natürlich, du bleibst. War ja irgendwie klar. Ich will dir sagen, dass du gehen sollst, will dir sagen, dass du verschwinden sollst. Komm später wieder. Wenn es vorbei ist. Wenn ich wieder ich bin. Aber natürlich ist es bereits zu spät. Verdammt, ich seh fast nichts mehr. Blöde Tränen. Natürlich fängt jetzt auch noch meine Nase an zu laufen, so dass ich kaum noch ein Wort rausbringe. Und natürlich hast du ein Taschentuch für mich. Schaust mich mit diesem Blick an, der so unerträglich für mich ist, weil er sagt: Es ist ok. Aber es ist eben nicht ok. Ich bin nicht ok. Versteh das endlich. Verschwende deine Zeit nicht mit mir. Nicht mit diesem ich. Komm später wieder.

Nun ist der Moment also da, und ich bin ihm wehrlos ausgeliefert. Bin dir wehrlos ausgeliefert. Etwas in mir unternimmt einen letzten Versuch, aufzustehen, sich wegzureißen, aber die Knie knicken mir weg, und ich plumpse halb auf dich drauf, halb in dich rein, in deine Arme, in deinen Schutz. Du willst mich schützen vor dem, was gleich kommt, dabei weißt du nicht, dass du es bist, die Schutz braucht. Das, was gleich kommt, kann niemand ertragen. Du denkst, du hast schon viel gesehen, hast schon viele Lasten getragen. Diese Wut. Es ist diese entsetzliche Wut, diese Raserei, die dich in wenigen Augenblicken zerfetzen wird wie Papier. Du kennst sie nicht. Gleich wird sie kommen. Warte nicht. Schau mich nicht so liebevoll an. Lüg nicht. Den Blick kenn ich doch. Den, der sagt: es ist gut. Aber nichts ist gut. Lüg mich nicht an.

Und dann kommt sie, meine Wut – und geht einfach wieder. Verraucht, verpufft, verschwindet. Als wäre sie nur eine Rauchbombe gewesen. Und als der Nebel sich lichtet, bleiben nur wir. Du lebst noch. Ich auch. Da laufen immer noch Besoffene an uns vorbei.

Weißt du, sage ich zu dir, ich glaube, eigentlich fühl ich mich ziemlich einsam. Ich will noch mehr sagen, aber plötzlich überkommt mich reines Gefühl, und ich kann nicht mehr sprechen. Jetzt ist da ein Loch, wo mal eine Mauer war, und sie sieht da rein. Da, wo die Schatten sind. Und immer noch läuft sie nicht weg.

Hey, den da kenn ich!, flüstert sie lächelnd, und zeigt auf den allerältesten Schatten in meinem Herzen. Das ist doch die Einsamkeit, oder? Und die Einsamkeit steckt ihren Kopf raus aus dem Loch und sagt ihr höflich Guten Tag. Das macht man schließlich so, wenn man einsam ist und bleiben will. Immer schön höflich sein zu anderen, die Etikette wahren. Guten Tag!, ruft nun auch aus ihrem Herzen ein Schatten, der mir bekannt vorkommt. Auch da ist wohl irgendwo ein Loch hineingeraten. Verrückte Welt! Weiß sie denn nicht, wie gefährlich das sein kann?

Weißt du noch, als ich dir damals gesagt habe, ich würd dich manchmal gern über meine Schulter werfen, in meine Höhle tragen und nie wieder loslassen?, sage ich. Ja, meint sie, schöne Vorstellung. Weißt du, ich hab versucht, das lustig zu sagen, damit du darüber lachst. Weils natürlich Quatsch ist. Du willst ja frei sein, so wie jeder andere auch, sage ich zu ihr, und sie meint nur: Ne schöne Vorstellung ist es trotzdem.

Während wir so miteinander reden, feiern unsere Schatten ein Fest miteinander, und die eine Einsamkeit in uns stellt fest, dass sie eigentlich ganz gut mit der anderen zusammenpasst. Dass es doof klingt, sich trotzdem Einsamkeit zu nennen, und dass sie jetzt lieber Herr und Frau Zweisamkeit gerufen werden wollen. Dass sie sich so gerne und häufig sehen wollen, dass es ziemlich impraktikabel erscheint, die Löcher in den Mauern wieder zuzumauern, weswegen die eben gleich offen bleiben. Das ist eigentlich gar nicht so unpraktisch auch für die anderen Schatten in uns, die so nun auch mal ans Licht kommen können.

Ich weiß nicht, wie lange wir nun schon auf dieser seltsamen Stiege sitzen. Da laufen immer noch Besoffene vorbei, machen immer noch dieselben unlustigen Witze im Vorbeigehen. Weißt du, ich glaube, ich brauch dich irgendwie, sage ich in einem Moment der Unaufmerksamkeit zu ihr. Aber eigentlich ist es gar nicht so schlimm so. Vielleicht kann man auch mal jemanden brauchen. Vielleicht darf man das ja wirklich. Ich sehe ihr in die Augen, suche, finde eine Antwort, die Wunden in mir heilt, von deren Existenz ich bislang nicht einmal ahnte. Du darfst hoffen.

Und natürlich habe ich Angst. Ich hab ja schon viel zu oft vergeblich gehofft. Aber vielleicht – und nur vielleicht – kann Freiheit in dieser Welt doch mehr bedeuten als Einsamkeit. Mit der Hoffnung kommt die Erinnerung zurück: an Leidenschaft, an Verzehren, an Liebe. Du darfst hoffen, hat sie mir gesagt, und mir in ihrer eigenen Hoffnung den Weg gewiesen.

Da laufen immer noch Besoffene vorbei, ziellos in ihren einsamen Steigerungen. Aber für uns gibt es nun Hoffnung. Wir stehen auf, gehen nach Hause. Ja, es gibt nun ein Zuhause für uns. Ich weiß noch gar nicht so genau, was das eigentlich ist, ein Zuhause. Aber ich glaube, es kann sich schön anfühlen. Wo der Glaube doch versagt, gibt sie mir Hoffnung. Wo auch die Hoffnung versagt, da ist sie trotzdem noch da. Und das ist irgendwie die allerschönste Hoffnung von allen.

Wie jeden Tag liefen die kleinen Angstmonster mit ihren Freunden, den Schäm-Dich-Monstern und den Zweifel-Monstern, an ihren liebsten Ort, um zu spielen. In der Nähe der großen, leuchtenden Kugel, von der alles entsprang, im Innersten, dort fühlten sie sich wohl.

Manchmal löste sich ein Gedanke oder ein Gefühl von der leuchtenden Kugel los, um sanft in Richtung Gehirn, Herz oder sogar Zunge zu schweben. Gespannt beobachteten die Gefühlsmonster dann das ebenso leuchtende Kügelchen, und schlossen Wetten ab, in welche Richtung es sich wohl bewegen würde. Sie hatten kleine Wegweiser aufgestellt, um den Überblick nicht zu verlieren. Und weil manche der Gefühlsmonster eben Spaßvögel waren, vertauschten sie diese Wegweiser manchmal, um zu sehen, was passieren würde. Manchmal landete ein Gedanke, der noch gar nicht fertig herangewachsen war, dann bereits auf der Zunge. Oder ein Gefühl, dass für das Herz bestimmt gewesen war, landete im Gehirn, wo es gar nicht hingehörte. Aber die Gefühlsmonster störte das nicht weiter, solange sie ihren Spielplatz für sich hatten. Sie waren wie Kinder, die weder an ein Gestern noch an ein Morgen dachten. Alles, was ihnen zählte, war, Spaß zu haben. Und sie hatten großen Spaß.

Irgendwann – die große Uhr neben der Lichtkugel musste wohl so etwa auf 2-3 Jahre gezeigt haben, hatten sie entdeckt, dass die Gedanken und Gefühle vorzüglich schmeckten, und so stritten sie fortan um diese Leckerbissen. Manche Kügelchen erreichten damit nie ihr Ziel, andere pupsten sie wieder aus, nur um verblüfft festzustellen, dass die so verzehrten und verzerrten Lichtkügelchen nun gar nicht mehr so leuchteten und lustig umhersprangen. Wenn diese dann ihr Ziel erreichten, gab es oft kleinere und manchmal sogar größere Beben im Innersten, in dem sie lebten. Aber sie schmeckten zu lecker, um aufzuhören.

Eines Morgens jedoch wurden sie von einem unglaublichen Getöse geweckt, und stellten fest, dass von der großen Kugel nun ein dicker Strahl zum Herz und von dort aus noch weiter in die Ferne führte. Das älteste der Gefühlsmonster wurde gerufen, um zu entscheiden, was denn nun zu tun sei. Er befahl, den Strahl eine Weile in Ruhe zu lassen. Nach einigen Monaten stellten sie fest, dass der Strahl etwas dicker geworden war. Der Älteste ging vorsichtig darauf zu, berührte ihn, kostete einen Happen. Eine außerordentliche Spezialität! Sogleich wurden alle Angst-Monster, alle Schäm-Dich-Monster und die Zweifel-Monster gerufen, um ein Festmahl zu feiern.

Nach dem Essen (von dem Strahl war nicht mehr viel übrig) wurde ausgiebig gepupst, wie es sich für echte Gefühls-Monster gehörte, und bewundernd beobachteten sie, wie ihr gemeinsames Produkt in Richtung Herzen entschwebte, um mit einem gewaltigen Beben auch die letzten Überreste des einst hellen Strahls verdampfen zu lassen. „Nun, das wäre erledigt“, meinte der Älteste zufrieden, „aber falls wir wieder einmal so etwas finden, wollen wir es ‚Liebe‘ nennen? Wir wissen ja jetzt, was zu tun ist. Problem gelöst.“ Im Laufe der Jahre wiederholte sich das Phänomen noch einige Male, was die Gefühlsmonster jedes Mal aufs Höchste erfreute. Denn die Liebe schmeckte ihnen vorzüglich.

Eines Tages jedoch, als sie sich gerade wieder einmal bereit gemacht hatten, eine besonders delikat aussehnde Liebe zu verspeisen, erschien plötzlich eine ganze Meute fremder Gefühlsmonster im Innersten. Gute Gastgeber, die sie waren, boten sie ihnen an, mitzunaschen, doch diese lehnten ab. Sie seien hier, um Liebe zu finden, nicht um sie aufzuessen. Es sei ja ok, hin und wieder ein wenig davon zu knabbern, sie munde ja auch sehr. Aber wenn man nicht aufpasse, dann fresse man sie eben doch allzu rasch auf, und es dauere immer länger, bis sie auf natürlichem Wege nachwachse. Deswegen seien sie gekommen, um diese Liebe zu retten, bevor sie noch ganz ausstürbe. „Man muss heute schon auch über den Tellerrand des eigenen Appetits denken“, meinte ein weißhaariges fremdes Angstmonster. Es sei ein sehr fragiles Gleichgewicht, das zu erhalten oder gar zu fördern ihre Aufgabe sei.

Die Gefühlsmonster waren irritiert. Wie sollte das funktionieren? Doch die Besucher hatten einen Plan: “Wir arbeiten jetzt alle für den Umweltschutz. Pflegt eure Liebe. Wenn ihr liebe-volle Gedanken und Gefühle nascht, passt auf, dass sie sich danach nicht statt Richtung Herz in Richtung Zunge bewegen, wenn sie doch noch zu klein sind, um ausgesprochen zu werden. Leitet sie. Werdet ihre Lotsen. Nährt eure Liebe, pflegt sie. Wenn ihr das tut, und wir ebenso, wird unsere Liebe stark sein und bleiben.”
Die Gefühlsmonster waren erstaunt. „Unsere Liebe?“, fragten sie.
„Ja!“, meinten die Fremden, “Wir waren auch erst überrascht. Bis wir begriffen haben, dass die Liebe das einzige ist, was unser Innerstes mit anderen Innersten, wie dem euren, verbinden kann. Nun können wir endlich mal die Welt erkunden! Könnt ihr euch vorstellen, wie viele Innerste es da draußen noch geben mag?”
„Das ist ja phantastisch!“, meinten die Gefühlsmonster, und malten sich eine goldene Zukunft aus.
„Lasst uns einen Pakt schließen!“, rief der fremde Älteste feierlich, „Wollen wir die Liebe, die uns verbindet, hegen und pflegen?“
„Ja!“, brüllten alle Gefühlsmonster voller Begeisterung, und ihr gemeinsamer Pups entschwand rasch Richtung Zunge. Da war Angst der Angstmonster dabei in diesem Ja, Scham der Schäm-Dich-Monster, und Zweifel der Zweifel-Monster. Aber auch die Festigkeit und Tragfähigkeit einer Liebe, die gerade eben unter Naturschutz gestellt worden war.

„Ich liebe dich“, sagte sie, bereit, die Angst, die Scham und die Zweifel, die mitschwangen, zunehmend als unverrückbare, unveränderliche Tatsachen anzunehmen.

„Auch ich liebe dich“, sagte er, weil er fühlte, dass es die Wahrheit war, und es sinnlos war, es zu leugnen. Eine Wahrheit, die ihn ängstigte, für die er sich manchmal schämte und an der er in schwachen Momenten zweifelte, verzweifelte. Aber vielleicht würden gerade jene Gefühlsmonster, die ihm so oft nachts den Schlaf raubten, ihm helfen können, seine Liebe zu ihr lebendig und stark zu halten.

Gute Arbeit, Jungs, dachte er, die Stärke der Verbindung zu ihr fühlend, und dann, zu ihrem Innersten hin: Ich liebe dich. Bis tief in sein Herz konnte er spüren, wie auch ihr Innerstes vor Glück erbebte. Richtig gute Arbeit, Jungs.
Weiter so.

Als Ausgleich für die lange Wartezeit gibts dieses Mal eine besonders lange, dreiseitige Geschichte. Ich hoffe, das ist in eurem Sinne 🙂

Sie war schön. Ihr schlafender Körper, nicht ganz von dem weißen Laken verdeckt, wirkte friedlich. Einen Moment lang blieb er im Türrahmen stehen und beobachtete sie zärtlich. Vor lauter Erschöpfung hatte sie das Licht brennen lassen. Aus dem Off des Fernsehers rauschten belanglose Worte zu ihm, irgendetwas mit „Kaufen Sie jetzt!“, das übliche Schnattern aufgeregter Fernseh-Verkäufer. Hatte wohl auch vergessen, den Fernseher auszuschalten. Ob sie den Verkäufer wohl auch in ihren Träumen noch wahrnahm? Dann bewegte sie sich, und er konnte die Konturen ihres Körpers unter dem Laken erahnen. Sie war wirklich schön.

Als er die Tür langsam schloss, um das Geplapper des Verkäufers nicht mehr hören zu müssen, wurde ihm erst bewusst, dass er gerade eine für ihn ungewohnte Entscheidung getroffen hatte. Etwas hatte sich verändert. Lange noch stand er dort, sinnierend, woran es lag, dass er sich irgendwie seltsam fühlte, freier, menschlicher. Bis er feststellte, dass er sie begehrt hatte. In dem kurzen Moment, als sie sich unter ihren Laken bewegt hatte, hatte er den Impuls gespürt, zu ihr zu gehen. Durch ihr Haar zu streicheln. Sich an sie zu kuscheln. Ihren Körper an dem seinen zu spüren, sie zu liebkosen, sie sanft aus ihrem Schlaf zu wecken und ihr auf eine Weise zu begegnen, die ihnen bisher verschlossen gewesen war.

Auch die noch Schlafende hätte es genossen. Er wusste, dass er seit langem zärtliche Gefühle für sie hegte, und sie für ihn. Wusste, dass sie ihn seit langem erwartete, in ihren Träumen von ihm träumte, während er, nur einige Meter entfernt und doch so fern, seinen verwirrten Gedanken nachjagte. Eine Entscheidung zu treffen versuchte, die seinem Geist zu viel abverlangte, ihn zu sehr verwirrte, zu viele Grundsätze in Frage stellte, als dass er hätte Ja sagen können. Und so waren sie sich nahe gekommen, aber nie zu nahe, so hatten sie sich geliebt und gehasst, nie so recht wissend, warum eigentlich. Nun wusste er es. Etwas hatte sich verändert. Er begehrte sie. Hatte sie immer begehrt. Doch nun konnte er es ihr offen zeigen. Sagen. Nun konnte er handeln.

Früh schon, als Kind, hatte er die Lust in sich entdeckt. Ebenso früh hatte er gelernt, sie tief in sich zu vergraben zu müssen. Es war wider die Natur, so zu lieben, hatten sie ihm erklärt. Aber sie war da, war nicht zu leugnen. Er hatte nur einen Platz für sie gefunden, der vor der Welt sicher gewesen war. Tief in seinem Inneren hatte er sie verwahrt, und jede kleinste Regung angstvoll überwacht. Da war sie nun wieder, diese furchterregende Macht, die ihn schon als kleiner Junge fasziniert hatte, dieser Hauch des Göttlichen, diese schaffende wie vernichtende Kraft. Sie hatten Angst vor ihr gehabt. Das wurde ihm nun, so viele Jahre später, schlagartig bewusst. Hatten Angst davor, was sie zu schaffen vermocht hätten, was sie in ihrem blinden Schaffen zu zerstören vermocht hätten. Auch seine Eltern hatten diese Macht wohl einst in sich verspürt, und auch sie hatten sich gehütet, ihr in sich Raum zu geben.

Die Hand immer noch auf der Türklinke, den schlafenden Körper auf dem Bett zärtlich vor seinem geistigen Auge betrachtend, spürte er in sich nun diese alles erschaffende Macht aufwallen. Und er stellte fest, dass die Angst fort war. Sie schlief friedlich, und er ließ sich durchströmen von dieser unbändigen Kraft, die die meisten seiner Mitmenschen wohl nur in dunklen Ahnungen wahrnehmen würden. Sein Körper fühlte sich seltsam durchlässig an, als wäre er nur ein Gefäß, um etwas in sich zu halten, das den eigentlichen Wert darstellte. Und nun, während er merkte, dass sein Körper sich mehr und mehr entspannte und sich mehr und mehr seiner inneren Blockaden als unnötige Illusionen eines „Guten“ entblößten, fühlte er etwas in ihm, das er in Ermangelung besserer Worte als „Seele“ erkannte, obwohl Worte ebenso doch nur leere Gefäße für etwas sein konnten, das tatsächlich so viel reicher war.

Er fühlte, wie sein Innerstes in Richtung des schlafenden Körpers zu fließen begann, der in seinem friedlichen Träumen all den einengenden Illusionen des Tages entflohen war, fühlte, dass es schön sein musste, so ineinander zu fließen, zu schaffen, zu sein. Aber etwas in ihm war diesem so ursprünglichen, kindlichen Bedürfnis nach Einheit bereits entwachsen. Etwas in ihm hatte gelernt, dass Macht immer auch Verantwortung bedeutete. Und sie war noch nicht bereit. Zärtlich verließen seine Gedanken ihr Zimmer und er kehrte erfrischt zurück zu seinem Herzen.

Dort erwartete sie ihn bereits, sie, die seine Liebe mit der Offenheit eines Herzens, dem die Narben des Lebens eine seltene Tiefe geschenkt hatten, empfing. Tief in ihr Herz blickend, hatte er seine eigene Tiefe wiederentdeckt, und jenen längst vergessenen Raum des Schaffens. Und, den Raum öffnend, dass die vermeintlich unbezähmbare Bestie in seinem Herzen ihm ein Freund sein können würde. Vielleicht würde sie ihn einst noch zu anderen Herzen führen als dem ihren. Die Liebe, die ihm offenbarte, dass er mehr war als das Gefäß seines Körpers, war eine wilde, unbändige Kraft, die in ihrem Schaffensdrang gerne die Schönheit der bisherigen Schöpfung außer Acht ließ. Aber je tiefer ihre Freundschaft werden würde, desto besser würden sie sich verstehen. Und immer besser würde es ihm gelingen, diese Macht in ihm so einzusetzen, dass sie mehr Nutzen als Schaden anrichtete. Dafür waren Freunde schließlich da.

Er hatte in ihr Herz geblickt, und auch in ihrem Herzen eine wunderbare kleine Freundin erblickt, die ein wenig verschüchtert, und im Lichte des plötzlichen Tageslichts blinzelnd, in die Welt hinausstarrte. Die Lust war auch in ihr, und auch sie würde sich nach und nach ihren rechtmäßigen Platz in ihrem Herzen zurückerkämpfen. Zärtlich hatte ihre Lust dem Freund in ihm die Hand gereicht, noch ein wenig unsicher und verwirrt von dem langen Schlaf, aus dem sie erwacht war. Gemeinsam wanderten sie nun, und sie zeigte ihm das Herz, in dem sie wohnte, und er ihr das seine. Gemeinsam träumten sie davon, wie es wohl wäre, nicht mehr alleine zu sein und einen Freund zu haben, mit dem sie ihre Welt teilen konnten. Bis sie voller Freude feststellten, dass sie bereits wach waren, lebten, liebten.

Lächelnd erwachte er aus seiner inneren Welt, an sie und ihre innere Freundin denkend, sich glücklich fühlend, ihre starke Verbindung fühlend. Leise tönte sein Handy. Eine SMS von ihr. „Mein Herz ist gerade bei dir, fühlt dein Herz schlagen“, hatte sie geschrieben. Wir sind eben doch alle verbunden, dachte er schmunzelnd, nur vergessen wir es viel zu oft. Wie gut, dass es tief in uns allen einen Freund gab, der uns daran erinnerte. Den die Über-Mächte dieser Welt zum Schweigen bringen, in die Tiefe verbannen, einen Bestie nennen, aber niemals ganz zu vernichten vermochten.

Er dachte noch einmal an den schlafenden Körper im Nebenzimmer zurück. Da war Liebe für diese Seele in ihm, aber ihr Herz blieb ihm verschlossen, pflichtbewusst einen Bewohner bewachend, vor dessen Macht sie sich fürchtete. Sie war schön. Aber sie war noch nicht bereit. Er würde da sein für diese zarte Seele, die noch der Illusion erlegen war, sie müsste andere Seelen zurechtweisen, um die vermeintliche Bedrohung in ihr zu bekämpfen. Vielleicht würde auch sie irgendwann bereit sein, Liebe in Freiheit zu schenken und zu empfangen, erkennen, dass Freiheit Verantwortung nicht nur bedingte, sondern auch voraussetzte. Dass Liebe in Freiheit zu schenken nicht eine abgeschmackte, verantwortungslose Version einer „vernünftigen“ Beziehung war, sondern vielleicht die höchste aller Künste, die es zu erlernen galt.

Tief einatmend, beglückt ausatmend, fühlte er ihren köstlichen Duft, freute sich, sie in einigen Tagen wiederzusehen. Doch für Liebe, in Freiheit gegeben, war Distanz, auch zeitliche, nur eine weitere Illusion unter vielen. Und schon spürte er ihre Nähe, ihr Herz im Rhythmus des seinen klopfend, und er wusste, dass sie ebenfalls gerade an ihn dachte, ihn in ihrem Herzen fühlte. Waren sie bereit? Er wusste es nicht. Ein Künstler konnte sich in den verschiedenen Techniken üben, aber die Erschaffung des Kunstwerks war am Ende immer ein Akt des Mutes, der hoffnungsvollen Überforderung. Sich selbst vergessen, sich selbst aufgeben, sich selbst als vergängliches Gefäß wahrnehmen und zu reinen Fließen zu werden. Niemand fühlte sich wohl jemals vollends bereit. Aber es fühlte sich richtig an, an sie zu denken, ihr bedingungslos seine Liebe zu schenken und die ihre ebenso frei zu empfangen, auch wenn er es sich nicht erklären konnte, warum, und auch wenn viele seiner Freunde ihm rieten, doch kein unnötiges Risiko einzugehen.

Menschen müssen doch erst lernen, sich Liebe zu verdienen, meinten sie. Doch es fühlte sich richtig an. Sein Einwand wirkte kläglich im Angesicht der Statistiken der Kritiker, die rieten, zu misstrauen, sich Respekt zu verschaffen, bevor man überhaupt an so etwas wie Liebe denken sollte. Aber es fühlte sich eben richtig für ihn an, und als er seinen inneren Freund dazu befragte, klopfte ihm der aufmunternd auf die Schulter und zwinkerte ihm zu. Er würde tun, was sich richtig anfühlte. Auf seine Verantwortung. Die Welt war unfrei genug. Es war unverantwortlich, auch noch die Freiheit der Liebe zu unterbinden. Sie würde es verstehen. Würde mit ihm fühlen, mit ihm Schritt für Schritt schaffen, leiden und manchmal, mit ein wenig Glück und Demut, auch feiern können. Weil es richtig war. Weil es wichtig war. Weil er die Liebe zwischen ihnen fließen gespürt hatte und verstanden hatte, dass diese Macht, dieses Fließen stärker sein konnte als alle Illusionen des Unmöglichen.

„Wollen wir?“, fragte er sie hoffnungsvoll in Gedanken, und die Antwort erklang nur einen Moment später in seinem Herzen, trug die Erinnerung an ihren herrlichen Duft mit sich, war alles was er sich erhofft hatte, alles, was er für den Augenblick von ihr brauchte, um weiter glauben, weiter hoffen zu können:
„Ja.“

P.S.: Eine wunderbare junge Frau hat sich vor einigen Tagen von dieser Geschichte inspirieren lassen und selbst eine sehr empfehlenswerte Antwort-Geschichte aus weiblicher Sicht veröffentlicht, die ich euch nicht vorenthalten will. Ihr findet sie hier.