In diesem Artikel geht es um einige Erfahrungen zum Thema “Offene Beziehungen” und Liebe/Beziehungen im Allgemeinen. Viele solche Experimente scheitern nicht an den Formen, sondern an den Voraussetzungen und Erwartungen der Liebenden. Wer sich auf das Abenteuer offene Beziehung einlässt, wirklich einlässt, wird vor allem mit sich selbst konfrontiert. Das liegt nicht jedem.

ôffeneBeziehungen

Ich beschäftige mich seit 10+ Jahren theoretisch mit der Thematik, und seit gut der Hälfte der Zeit auch praktisch. Es gibt dazu unzählige „Tipps“ im Internet zu finden. Den Großteil davon halte ich für nicht sonderlich hilfreich, weil sie nur eine vordefinierte Form durch eine andere ersetzen.

Hier möchte ich versuchen, einige Erfahrungen zu teilen, die unabhängig von der jeweilig gewählten Beziehungsform hilfreich sein können.

Vielleicht die wichtigste Frage vorweg beantwortet: Bin ich mit meinen Experimenten glücklich geworden?

Im Großen und Ganzen: ja. Zumindest habe ich viel gelernt. Über mich selbst. Über den jeweils anderen. Die Welt im Allgemeinen. Und mit den Jahren bin ich dadurch wohl auch ein Stück weit weiser geworden.

Hier zwecks besserer Übersicht eine kleine Auflistung des Folgenden:

Die Verwirrung der Begrifflichkeiten

Bestimmte Wörter triggern bestimmte Vorerfahrungen oder Erwartungshaltungen beim jeweils Anderen, die oft schwer wieder auszulöschen sind.

Wenn ich von „offenen Beziehungen“ spreche, spreche ich von dem Ansatz, sich gemeinsam hinzusetzen und immer wieder herauszufinden, was jeder braucht, um sich miteinander (und mit sich selbst) wohlzufühlen, unabhängig von gesellschaftlichen Normvorstellungen. Andere verstehen darunter eher ein „Ich fick mich durch die Welt“, wieder andere ein „Mir ist alles egal. Du eingeschlossen.“ Viele haben damit auch bereits entsprechende (oft negative) Vorerfahrungen gemacht. Dies erschwert einen unvoreingenommenen Zugang zum Thema.

Ein einziger Begriff, unbedacht verwendet, kann – am besten noch in Kombination mit Hemmungen, über Befürchtungen offen zu sprechen – beinahe unüberwindliche Hindernisse aufbauen. Daher kann man nicht immer darauf vertrauen, dass der Andere Begriffe auch so versteht, wie man selber sie meint. Und ein Nicht-Nachfragen bedeutet nicht immer Einverständnis, sondern allzu oft eher ein „Ich habe Angst vor der Antwort, wenn ich eine Frage stellen würde, deswegen stelle ich sie lieber nicht“.

Liebe ist immer auch Selbst-Überwindung. Wer sich dabei auch noch von etablierten Normen verabschiedet, betritt einen Raum, der Angst machen kann. Andere hören davon, raten ab davon, beeinflussen das Miteinander. Weil sie selbst schlechte Erfahrungen damit gemacht haben. Oder – ebenso häufig und nicht zu unterschätzen – es nicht aushalten würden, dass man selbst damit glücklich wird. Weil es sie mit der realen Möglichkeit konfrontiert, ebenso etwas Anderes zu versuchen.

Mut, und Verlässlichkeit, die den Mut rechtfertigt, sind deine Freunde.

Das Erlernen der Selbstliebe

Quelle der Selbstliebe

In einem jeden von uns ist eine Quelle zu finden, aus der wir Liebe „ernten“ können. In manchen Menschen ist sie etwas versteckter als in anderen. Aber zu finden ist sie in einem jeden von uns, wenn man sich ernsthaft auf die Suche danach macht.

Weil es auf den ersten Blick einfacher erscheint, sich seine Liebe von außerhalb zu holen, wenden wir jedoch vielfach nicht die Zeit dafür auf. Es geht ja auch anders. Dass wir uns damit von diesem Außen erpressbar machen, fällt oft erst dann auf, wenn dieser Fall eintritt.

So akzeptieren wir aus Angst vor Liebesverlust Verhaltensweisen anderer, die weder uns noch ihnen gut tun. Der einzige nachhaltige Schutz gegen diese ungesunde Abhängigkeit ist es, die Quelle der Selbstliebe in uns selbst zu entdecken, und zu lernen, mit ihren Schwankungen umzugehen.

Nicht wenige Menschen verstehen unter „Offenen Beziehungen“ die Idee, das Risiko dieser Abhängigkeit vom Außen auf mehrere Menschen aufzuteilen. Fällt einer weg, fangen die anderen das Risiko auf. Darum haben diese Menschen auch tendenziell Angst, in die Situation zu kommen, „nur“ einen Partner zu haben.

Aber das verlagert das Problem nur, löst es nicht. Die einzig dauerhaft nachhaltige Lösung ist in einem selbst zu finden: im Finden und Nutzbarmachen der eigenen Quelle der Liebe und Aufmerksamkeit.

Die Ökonomie der Großzügigkeit

Wer in sich eine Quelle der (Eigen-)Liebe entdeckt hat, wird bald erkennen, dass er diese in sich „geerntete“ Liebe auch an andere weitergeben und damit Glück bringende Verbindungen schaffen kann.

Doch auch wenn diese Quelle in uns eine nachwachsende Ressource ist, bringt sie nicht immer gleiche Ernte. Zudem schwankt unser „Eigenverbrauch“ mit unseren Bedürfnissen und unseren Verbindungen zur Außenwelt mit.

Im Idealfall schaffen wir es, uns selbst aus eigener Quelle gut zu versorgen und den Überschuss an andere weiter zu schenken. Geben wir aus diesen Ressourcen mehr, als wir selbst „nach-ernten“ können, so deswegen, weil aus verlässlicher Quelle von außen genug nachkommt, um unseren eigenen Bedarf zu decken. Ich kenne kaum jemand, der diesen Idealfall lebt.

Erfahren wir hingegen einen Mangel an Liebe/Aufmerksamkeit (weil wir zu wenig in uns finden, zu viel gegeben haben oder zu wenig zurückbekommen haben), so wächst das Bedürfnis nach Kontrolle unserer Beziehungen zum Außen. Aus Beziehungen, die je nach Ressourcen Überschüsse miteinander teilen, werden „Handels-Beziehungen“ – mit entsprechenden (oft unausgesprochenen) „Verträgen“ oder zumindest Vorstellungen entsprechender Verpflichtungen und Hochrechnungen der jeweiligen “Leistungen” füreinander..

Eine der Voraussetzungen, um ökonomisch mit den eigenen Ressourcen wie Liebe und Aufmerksamkeit umgehen zu können, ist ein kontrollierter Umgang mit den eigenen Grenzen: den Durchfluss hin zum Anderen genau so weit zu öffnen, wie es allen Betroffenen (also auch mir!) gut tut.

Allzu oft werfen Menschen anderen vor, sie bewusst „ausgenutzt“ zu haben, wo sie doch nur selbst unfähig waren, den „Abfluss“ der eigenen Ressourcen entsprechend zu steuern.

Die gute Nachricht ist: diese Selbst-Kontrolle lässt sich erlernen.

Die Fähigkeit der Selbstbehauptung

Selbstbehauptung

Wenn wir uns durch die Welt bewegen, treffen wir auf andere Menschen, denen es an Liebe und Aufmerksamkeit für sich selbst fehlt. Vor allem in den sensibleren von uns wird dadurch oft der Wunsch geweckt zu helfen. So manches Mal werden wir auch direkt um Hilfe gebeten, oder es wird versucht, diese (bis zur Anwendung von Gewalt) einzufordern.

Viele Menschen machen die Entscheidung, ob sie helfen wollen, von der Hilfsbedürftigkeit des Anderen abhängig. Dabei übersehen sie gerne, dass ihre eigenen Ressourcen und damit ihre Möglichkeiten zu Helfen beschränkt sind.

Viel hilfreicher für alle Beteiligten ist es im Regelfall, wenn der eigene „Haushalt“ an Ressourcen wie Liebe und Aufmerksamkeit der entscheidende Faktor ist: Bin ich gerade im Überfluss? Und wenn ja, wie viel kann ich geben, ohne selbst in einen Mangel zu geraten?

Wird diesem Aspekt zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, so kann es rasch zu Vorwürfen dem Anderen gegenüber kommen, wenn wir uns beim “Helfen” selbst überfordern. Die Ursache der Überforderung liegt jedoch nicht im leidenden Anderen verborgen, sondern in unserer Unfähigkeit der Abgrenzung, wo uns die Ressourcen fehlen, nachhaltig zu helfen.

Nun kann es auch passieren, dass jemand von uns Hilfe verlangt, etwa weil er uns vorher selbst geholfen hat, oder es als Pflicht innerhalb einer Freundschaft/Beziehung/… ansieht. Auch hier kann es hilfreich sein, dies stattdessen vom eigenen Ressourcen-Haushalt abhängig zu machen, selbst wenn es vorerst zu einem Konflikt führen mag.

Denn bin ich selbst „unterversorgt“, kann ich dem Anderen nur sehr eingeschränkt helfen. Ich tue ihm keinen Gefallen, wenn ich ihm meinen eigenen Mangel verschweige.

Vor allem wird durch solche Konflikte dann plötzlich sichtbar, wie oft wir uns eigentlich in „Handels-Beziehungen“ mit unseren Mitmenschen befinden, die nach „vorgefertigten Formen“ ablaufen („Ein echter Freund reagiert so“), anstatt uns an unseren Bedürfnissen und Möglichkeiten zu orientieren.

Manche Menschen drängen anderen Menschen ihre Liebe und Aufmerksamkeit auf, weil sie sich nicht mit sich selbst beschäftigen wollen. Oft wollen sie sich damit auch eine entsprechende „Gegenleistung“ in ihren eigenen schlechten Phasen „erkaufen“. Wer annimmt, was er nicht braucht, um einen Konflikt im Jetzt zu vermeiden, nimmt dafür im Regelfall einen späteren Konflikt in Kauf – bei dem er sich dann in der Defensive befindet, hat er doch vom anderen schon „profitiert“.

Bedingungslose Liebe

Die meisten von uns sind es gewohnt, die Bewertung unseres Tuns vom zu erwartenden Ergebnis abhängig zu machen. Wir “investieren” in einen Menschen, weil wir uns einen Nutzen daraus erwarten. Wenn es dann danach aussieht, als würde sich der Nutzen womöglich nicht einstellen, hören wir damit auf.

Im Hinblick auf die Liebe: wir geben einer geliebten anderen Person Aufmerksamkeit, in der Hoffnung, sie würde es uns gleichtun und im Gegenzug uns Aufmerksamkeit schenken. Keimt in uns der Verdacht auf, dies würde nicht so sein, hören wir oft damit auf – und erzeugen damit womöglich erst die Situation, die wir fürchten. Denn die andere Person denkt sich nun: Bin ich ihm denn am Ende doch nicht so wichtig als ich glaubte? Und wird ebenso ihre „Investition herunterfahren“.

Der Schlüssel liegt auch hier wieder im Vertrauen auf die eigenen Ressourcen: sich selbst von der Reaktion der Umwelt unabhängig zu machen. Weil die notwendigen Ressourcen an Liebe und Aufmerksamkeit in ausreichender Menge in einem selbst zu finden sind, und der Überschuss bedingungslos weitergeschenkt werden kann.

Zu lieben. Einfach so. Sobald man genügend Liebe und Aufmerksamkeit in sich selbst „gewonnen“ hat, dass man den Überfluss aus freien Stücken verschenken kann, ohne auf einen Ausgleich angewiesen zu sein.

Meiner beschränkten Erfahrung nach ist hier die eigentliche Grenze “freier Liebe” zu finden. Ich kann bedingungslos lieben, aber dieser “Überschuss” an Liebe und Aufmerksamkeit, den ich geben kann, ist trotz allem begrenzt.

Deswegen halte ich es aus heutiger Sicht für sinnvoll, sich auf eine Person, eine Gefährtin zu beschränken, der man Priorität einräumt. Ist genügend “Überschuss” vorhanden, um noch mehr Menschen etwas davon zukommen zu lassen: gut, warum nicht. Aber ich habe noch niemanden kennengelernt, der dies auch dauerhaft und gleichberechtigt mit mehreren Menschen auf eine Weise vollbracht hätte, die alle Betroffenen glücklich macht.

Die Kunst der lebendigen Formen

Ausgeglichenheit

Die meisten von uns betrachten die Liebe tendenziell als eine Sache von Entweder-Oder. Entweder du bist mit mir in einer Beziehung, dann opfere ich mich für dich auf (und erwarte dasselbe von dir). Oder wir sind es nicht, und was wir füreinander tun ist beschränkt durch bestimmte Formen.

Wehe, die Grenzen jener Formen verwischen sich – etwa wenn der One-Night-Stand plötzlich auf die Idee kommt, den anderen zu lieben. Oder die sexuelle Anziehung innerhalb einer Beziehung ihren Reiz verliert. Das war doch anders ausgemacht! Dann trennt man sich mehr oder weniger versöhnlich, um nicht in die schwierige Situation zu kommen, sich im unsicheren Terrain der Graustufen zu bewegen.

Wer die obigen Aspekte verinnerlicht hat, ist gut vorbereitet auf jenen weiteren mutigen Schritt: gemeinsam lebendige Formen zu kreieren. Wenn alle Beteiligten gut auf sich selbst achten, können sie auch gemeinsam eine Form des Miteinanders finden, die ihren jeweiligen Bedürfnissen entspricht. Und auch einen für sie stimmigen Veränderungsprozess jener Form, damit sie lebendig bleibt und sich verändernden Bedürfnissen anpasst. Denn alles ist vergänglich in dieser Welt.

Der Gefährte, der gerade in einer persönlich schwierigen Phase durchmacht, wird womöglich in jener Zeit mehr Nähe und Geborgenheit brauchen, als er es zu anderen Zeiten notwendig hat, wo er diese eher als „übertrieben“ oder gar „lästig“ empfindet. Und warum auch nicht?

Alles, was dazu notwendig ist, ist gute, ergebnisoffene Kommunikation. Nicht: Willst du X für mich sein oder Y? Sondern: Was brauchst du? Ich brauche dies und jenes. Eine gewisse Schamlosigkeit, die die notwendige Voraussetzung von Authentizität und Echtheit ist. In der man auch mal schwach, nicht perfekt sein darf, und dem Anderen das gleiche Recht zugesteht. Wie befreiend!

Die Akzeptanz einer imperfekten Welt

Die meisten von uns sehnen sich (aus Eigenerfahrung sowie Erfahrungen anderer, die sich mir anvertraut haben) einerseits nach einem Gefährten, dem Vertrauten, aber auch dem Neuen, oft in einer Art stetigem Wechselspiel des Ganzen. Und wollen am besten all das in einer Person vereint. Am besten noch ohne großen eigenen Aufwand, bis übermorgen geliefert bis an die Haustüre.

Nur: die Welt verändert sich ständig. Die Menschen um uns verändern sich, und auch wir selbst und unsere Bedürfnisse. Die Idee einer offenen Beziehung (im Sinne meiner Definition, gemeinsam ein Miteinander zu finden, das stimmig für alle Betroffenen ist) kommt dem entgegen. Weil sie vom Zwang erlöst, die perfekte Wahl zu treffen und auch selbst zu sein. Weil ich – wenn es mir wirklich wichtig ist – gemeinsam mit allen Betroffenen nach konstruktiven Lösungen suchen kann, ohne mich ständig für oder gegen Menschen entscheiden zu müssen.

Ich glaube nicht, dass es die „objektiv perfekte Form“ des Miteinanders gibt. Sondern dass die Kunst darin besteht, gut für sich selbst sorgen zu lernen und gemeinsam ein stimmiges Miteinander zu finden, das sich seine Lebendigkeit behält. Damit man sich aneinander erfreuen kann. Nicht notwendigerweise ständig, aber mit den Rhythmen von Sterben und Wiedergeburt der jeweils stimmigen Formen des Miteinanders immer wieder aufs Neue.

Erstaunlich oft ist mir das neben einigen schmerzvollen Erfahrungen auch gelungen. Ich wünsche euch ähnliche positive (oder zumindest lehrreiche) Erfahrungen.

Niklas

P.S.: In meinem Buch Barfuß führt dein Weg dich weiter sind auch dazu einige Texte enthalten. Und bis 29.11.2018 ist die eBook-Version meines Buches sogar noch kostenlos downloadbar. Mehr Infos dazu unter diesem Link.

„Darf man fragen, ob es dafür bestimmte Gründe gibt?“
Anzeichen, die hatte es gegeben. Als er vor einigen Wochen zu ihr gekommen war, und sie meinte, es würde nicht an ihm liegen, aber… heute würde es nicht passen… oder als sie sich um 17 Uhr verabredet hatten, und sie dann bis 20 Uhr weder auftauchte noch erreichbar gewesen war. Es hatte sich bereits abgezeichnet. Und auch er hatte innerlich gespürt, dass ihre Verbindung nicht allzulange so weiterbestehen würde. Überrascht war er mehr über die Geschwindigkeit, mit der der von Anfang an absehbare Prozess sich nun vollzogen hatte.

Und interessiert. An den Gründen. Oder zumindest jenen, deren sie sich bewusst war.
„Naja, mir ist aufgefallen, dass ich dich nicht vermisst habe, wenn ich dich nicht gesehen habe.“

Es war ihr unangenehm, zu sprechen, und ebenso unangenehm, zu schweigen. Eine schwer lokalisierbare Form von Schmerz, den er ihr nicht nehmen konnte und wollte. Er war notwendiger Teil des Prozesses, eines Ablaufes, den er mittlerweile oft genug durchlaufen hatte, ihn nicht mehr über Gebühr zu fürchten. Erfüllte eine kommunikative Funktion: aufzurütteln, zum Handeln zu bringen, wo Handeln noch konstruktive Konsequenzen nach sich zog. Aber hier, das war ihm schon klar gewesen an der Art, wie sie auf ihn zugegangen war, war die Art seines Handelns irrelevant, das Ende der Geschichte schon vorgeschrieben.
Schweigen. Aushalten.

„Weißt du, ich habe in letzter Zeit so eine Theorie, die immer mehr Sinn zu machen beginnt“, setzte er an. „Vielleicht sind wir uns in unseren Beziehungen Lehrmeister, und diese Beziehungen, gleich welcher Form, haben eine Art natürlichen Verlauf von Geburt, Wachstum, Verfall. Vielleicht haben wir uns einfach bereits alles gelehrt, was wir uns zum derzeitigen Zeitpunkt lehren können.“
Sie schwieg. Es gab auch nur noch eines zu sagen.

„Ich hab in der kurzen Zeit enorm viel durch dich gelernt. Danke dafür.“
Der Hauch einer Erwiderung.

„Dann werden wir uns wohl so schnell nicht mehr wiedersehen?“, begann er, die Zukunft abzustecken.
„Über den Weg laufen sicher mal.“
Der Subtext sprach Bände.

Als sie gegangen war, fühlt er sich seltsam leer, unberührt. Als wäre etwas falsch an seiner Reaktion gewesen, als hätte er herumschreien oder zumindest irgendetwas zerdeppern müssen.

In Ermangelung besserer Einfälle ging er einfach los, fand den Wald, fand den Fluss, wurde zum Fluss in immer fließenderen Bewegungen. Und als der Fluss ihn völlig ausfüllte, fühlte er, wie sich ihm inmitten aller Strömungen der Wahrnehmungen und Leben ein kleiner, unscheinbarer Ort eröffnete, an dem er die Stille wiederfand. Und die Stille sprach sanft zu ihm:
Was hast du verloren?

Und er sah ihr Gesicht in allen Formen der Welt wiedergespiegelt. Sah, dass jede Geburt ein Sterben war, und jedes Sterben Raum schuf für Wiedergeburt. Die Einzigartigkeit des Moments, der ihm geschenkt war, und das Wunder, im stetigen Wandeln von Tod und Wiedergeburt stets einen radikal neuen Moment vorzufinden.

Alles vergeht, alles kommt wieder.
Als er die Augen öffnete, fand er sich auf einem Stein wieder, umsprudelt von einem dahinplätschernden Bach. Wie er hierhergekommen war, wusste er nicht. Aber es war im Grunde auch irrelevant.

Nichts geht je ganz verloren.
Er würde sie wiedersehen, verhüllt in neue Formen, verkleidet als wieder andere Lehrmeisterin.

Nun fühlte er sich erinnert an den Moment, als er vor einigen Wochen mit einer jungen Frau ins Wasser eines Sees gelaufen war. Sie hatte gezögert, war nicht sicher, ob sie sich der erwarteten Kälte stellen wollte. „Warm, kalt, macht keinen Unterschied!“, hatte er ihr zugerufen, „nur weil du glaubst, kalt sei unangenehmer, erlebst du es so!“. Den Gedanken hatte er schon lange mit sich herumgetragen, aber nun, um ihn ihr – und sich selbst – zu beweisen, ging er mutig voran ins Wasser.

Die Schwierigkeit war nicht, dass das Außen stets in Bewegung war. Warm. Kalt. Nähe. Distanz. Die Schwierigkeit lag darin, sich auf die Bewegung einzulassen, ohne auf die Stille im Zentrum zu vergessen, aus der alles entsprang, zu der alles zurückkehrte, und dank der niemals etwas von Essenz verloren ging. Wohl änderten sich die Formen, ähnlich wie ein jeder Regentropfen für sich einzigartig war. Aber der Regen als solcher war eine Konstante. Es würde immer Leben geben. Es würde immer Liebe geben, Nähe, Distanz, Tod, Wiedergeburt. Die großen Konstanten.
Alles vergeht. Alles kommt wieder.
Er hatte die Kreisläufe schon oft genug durchlaufen, um den einstmaligen Glauben zur Gewissheit werden zu lassen.
Nur die Hüllen, die Formen, sind sterblich.
Vielleicht würde er sie in jener Form nie wiedersehen.
Nichts Essentielles geht je verloren.
Aber die Liebe in ihrer Essenz würde wiederkehren.

Und nun verstand er, warum er vorhin keine nennenswerte Trauer verspürt hatte.
Worüber auch trauern, wo doch ohnehin alles wiederkehren würde?
Mit neuen Formen, neuen Erfahrungen, und dem unwiderstehlichen Hauch eines neuen Frühlings.

(Alle Aussagen von anderen Personen habe ich so verstanden, das bedeutet nicht, dass sie es auch so gemeint haben. Nur zur Sicherheit..)

Ich bin nun seit gut einem ¾-Jahr bei meinem Freund René im Tai-Chi-Training (er nennt es „Verein für innere Kampfkunst“), und er hat immer wieder einen interessanten Gedankengang erwähnt: dass seiner eigenen Erfahrung nach (doch immerhin über 10 Jahre der Praxis) in Tai-Chi-Kursen oft sehr viel Wert auf das Erlernen einer korrekten Form gelegt wird (man kennt vielleicht die Bilder aus chinesischen Parks). Weiter meinte er, dass es üblich sei, nach 10, 15, 20 Jahren der Praktizierung dieser Form irgendwann (vielleicht!) die Prinzipien dahinter zu verstehen. Er hingegen vermittle lieber direkt die Prinzipien, so dass man sie – auch ohne die vollständige Form perfekt zu beherrschen – sofort im Alltag einsetzen und praktizieren kann. Die Form vermittelt er auch, aber mehr als “Bonus”.

Da ich die Vorteile des Zuganges Woche für Woche nicht nur an mir, sondern auch an den anderen Teilnehmern des Kurses beobachten kann, stellt sich die interessante Frage, ob denn nun die spezifischen Tai-Chi-Bewegungsformen nicht auch ganz weggelassen werden könnten. Zusätzlich meinte René auch, dass man in einem realen Kampf ja nicht davon ausgehen könnte, dass sich der Gegner exakt so bewegen wird wie in der Form vorgesehen, man müsse schon auch in stimmigem Kontakt gehen und bleiben, um auf die Bewegungen des Gegners adäquat reagieren zu können, und würde dabei oft von der eingelernten Form abweichen.

Die Nützlichkeit der Form

Und doch hat das Erlernen der Form seine Nützlichkeit, wie ich nach einigen Monaten fast täglicher Übung feststellen konnte: sie erhöht den Bewegungs-Spielraum. Am Anfang waren einige der Bewegungen der Form für mich sehr schwierig auszuführen („unmöglich“ war des Öfteren der Gedanke), aber mit der Zeit wurde mir immer mehr klar, dass dies nicht an der universellen Unmöglichkeit von Körperbewegungen an sich lag, sondern an meinen eigenen inneren Blockaden, die mir das Praktizieren der Form überwinden half.

Unlängst im Kurs meinte René zu mir, dass ich ihm in der Sensibilität mittlerweile beinahe gleichwertig wäre, aber er eben noch den Vorteil der langjährigen Praxis habe. Was er damit vermutlich meint, ist, dass er über die Jahre bereits mehr der inneren Blockaden abgebaut hat als ich, was es ihm ermöglicht, mich über meine Blockaden im (Übungs-)Kampf zu überwinden. Man sieht es ihm auch an seinen Bewegungen an, die sehr frei wirken. Es geht im Tai-Chi (soweit ich das verstanden habe) genau darum, die inneren Blockaden des Gegners zu erfühlen und ihn gewissermaßen über diese Blockaden „auszuhebeln“, was einen sehr wertvollen Übungsraum auch für die eigene Selbst-Erkenntnis bietet.

Worauf ich im Grunde hinaus will, ist Folgendes: Dass die Bewegungen der Tai-Chi-Formen ganz bestimmten Abläufen folgen, hat ihren nützlichen Hintersinn, nämlich den eigenen Bewegungs-Spielraum zu erhöhen und Blockaden, die diesen Einschränken, aufzulösen. Damit entsprechen die einzelnen vorgeschriebenen Bewegungsabläufe gewissermaßen dem, was ich an anderer Stelle hier auf diesem Blog „konstruktive Grenzen“ genannt habe: das Endziel ist es, sie überflüssig zu machen, weil sie ihren Zweck, den Bewegungsspielraum in einem bestimmten Bereich zu erhöhen, irgendwann erfüllt haben.

Dies ist, richtig angewendet, ein konstruktiver Anteil der Funktion der Form. Ein anderer hat viel mit Identität zu tun, und ist potentiell gefährlicher. Wenn ich die Form ausführe, bin ich Tai-Chi-Praktizierender. Weiche ich von ihr ab, bin ich es nicht mehr. Wenn ich die Gruppenzugehörigkeit brauche („Ich bin ein Tai-Chi-Mensch“), werde ich möglicherweise in einer Form verharren, die ihren eigentlichen Zweck (Erhöhung des Bewegungs-Spielraumes) längst erfüllt hat, und aufhören, mich weiterzuentwickeln. Das potentiell konstruktive Ritual wird dann rasch zum Selbstzweck, zur Falle.

Die Falle der Form in der Religion

Was ich weiter oben über Tai Chi geschrieben habe, lässt sich auch auf viele andere Lebens-Bereiche umlegen. Nehmen wir das große Thema Religion/Spiritualität. Gerade in unseren Zeiten stehen uns zahlreiche verschiedene Zugänge zu diesen Themen zur Verfügung, die uns (ich bin da gern optimistisch) ausnahmslos als „Übergangs-Formen“ dienen können, um unseren Bewegungs-Spielraum (der auch psychisch/seelisch verstanden werden darf) zu erweitern. So hat für mich die jüdisch-christliche Tradition und Überlieferung viele wertvolle „Formen“ und auch Rituale anzubieten, die uns Wachstumschancen eröffnen, aber auch ebenso der Islam, der Buddhismus, der Taoismus und viele weitere.

Jede dieser Zugänge hat seine Stärken wie auch seine blinden Flecken, ähnlich wie eine jede Übung zur Stärkung des Körpers auf manche Körperpartien besser und auf andere weniger gut auswirkt. Wer von uns würde sein Leben lang ständig nur die rechte Wade trainieren, und den Rest des Körpers völlig vernachlässigen? Und doch ist dieser Zugang in Bezug auf Religionen/Spiritualität weit verbreitet. Da wird Jahrhunderte lang darüber gestritten, welche Form die beste (oder gar die “einzig wahre”) sei, anstatt zu fragen, welche Form helfen kann, welche inneren Blockaden/Illusionen aufzulösen, und sich schlicht aus dem riesigen vorhandenen Fundus das zu wählen, was individuell stimmig wirkt. Man muss sich ja z.B. nicht offiziell Moslem nennen wenn man Angst hat, von Freunden dafür schief angeschaut zu werden, aber warum nicht soziale Identität und Nützlichkeit der einzelnen Formen an sich voneinander getrennt halten, und sich jeweils das an nützlichen Übergangs-Formen herauspicken, was individuell als hilfreich erlebt wird? Muss man ein wenig “spinnert” sein, wenn man sich mit Chakren beschäftigt, und diese Beschäftigung selbst als hilfreich erlebt?

Die Falle der Form in zwischenmenschlichen Beziehungen

Wer des Öfteren mal meine Barfuß-Geschichten gelesen hat (oder mich persönlich kennt), der dürfte ohnehin mittlerweile erraten haben, dass ich klassischen monogamen Beziehungen sehr skeptisch gegenüberstehe, und nicht wirklich nachvollziehen kann, warum man sich einem von vornherein derart anstrengend konzipierten Sozialen System freiwillig unterwerfen will. Warum also nicht mal auch öffentlich und ohne Verschleierung durch eine Geschichten-Form anmerken, dass ich mir seit vielen Jahren nur noch offene Beziehungen vorstellen kann (und diese auch lebe), wo es dem Verständnis dieses Artikels dienen mag?

Ich kann den Sinn und Zweck einer klassischen Beziehung als Übergangs-Modell nachvollziehen, um mit einer Art Prototyp menschlichen Miteinanders im Umgang mit dem anderen Geschlecht (oder gerne auch dem eigenen, aber im Sinne der Lesbarkeit erwähne ich das nicht mehr extra) „starten“ zu können. Als eine Art konstruktive Grenze, als Übergangs-Form, innerhalb derer es anfangs einfacher ist, Liebe und Sexualität zu erfahren und zu erforschen, ähnlich wie eine vordefinierte Form im Tai-Chi helfen kann, die eigene Beweglichkeit zu erhöhen. Aber ich habe zu oft bei Freunden/Bekannten beobachtet, wie sich diese Übergangs-Form verfestigt und zum Selbst-Zweck wird, zum Teil einer gemeinsamen Identität wird, deren Verlust bedrohlich wirkt, was zu allerhand absurden Folgeerscheinungen führt.

Viele meiner Freunde/Bekannten finden sich dann mit der Zeit entweder in unbefriedigenden Beziehungen wieder, springen von Beziehung zu Beziehung oder verzichten von vornherein ganz auf eine Kombination aus sexueller Anziehung und emotionaler Intimität (“Ich mache aus Prinzip nur mehr ONSs). Man fragt sich, in welche Rolle, in welche Form der neu kennengelernte Mann, die neu kennengelernte Frau, wohl passen könnte, und spielt mit dem Reiz der Unwissenheit, bis die Schematisierung vollbracht ist. Menschen werden kategorisiert in Familie, Freunde, Beziehung, Freundeskreis, ONS, …

Einige wenige (nach einigen Rückmeldungen teilweise auch von meinen Erzählungen inspiriert, was mich natürlich freut) trauen sich irgendwann dann doch, in das zu gehen, was ich für mich „stimmigen Kontakt“ getauft habe, in dem die etablierten Formen eine untergeordnete Rolle spielen, und das Miteinander anhand der Bedürfnisse der Betroffenen jeweils neu gestaltet wird. Nur zu oft werden dabei eigene und die Blockaden des Anderen auf diesem Gebiet der menschlichen Existenz allzu sichtbar und spürbar, und nicht immer ist die Überwindung einfach. Oft verändert sich das Miteinander drastisch, nachdem eigene innere Blockaden spürbar und damit auch bewusst werden, bisweilen ändern sich auch Leben von Grund auf.

Es ist für mich nach beinahe 10 Jahren „Praxis“ auf dem Gebiet die bisweilen anstrengendste, aber auch mit Abstand erfüllendste Art des Miteinanders, vor allem auch, weil ein solcher Zugang Räume eröffnet, um realen Bedürfnissen, die in keine etablierten Formen passen, Raum zu geben (wie häufig diese “un-passenden” Bedürfnisse keinen Raum finden, wie traurig und gleichzeitig völlig absurd dies eigentlich ist, davon dürften sich viele, die sich mit diesen Themen noch nie beschäftigt haben gar keine Vorstellung machen können). Und bis auf wenige Ausnahmen bin ich mit den meisten Frauen, die mein Leben in diesen 10 Jahren gekreuzt und bereichert haben, noch in Liebe verbunden, auch wenn sich die Form des Miteinanders bisweilen über die Jahre sehr verändert hat, oder ein Beteiligter bisweilen Distanz benötigte, um neu und verändert wieder aufeinander zugehen zu können.

Ich habe zahlreiche Frauen kennengelernt (auch Männer, aber zu denen fühle ich mich – bisher zumindest – nicht körperlich hingezogen), die mir erzählt haben, dass sie entweder nur fixe monogame Beziehungen wollten oder nur One Night Stands. Ersteres verspreche ich aus Prinzip nicht mehr, weil ich dafür zu oft die Erfahrung gemacht habe, dass ich mehrere Menschen zur gleichen Zeit lieben kann (und damit nicht alleine bin, entgegen gesellschaftlicher Standards dürfte das die – jedoch kaum je offen eingestandene, weswegen es nicht so wirkt – Normalität darstellen). Zweiteres habe ich in meinem Leben bisher noch nicht hingebracht, selbst diejenigen Frauen, die sich von Anfang an sicher waren, dass das eine einmalige Sache sei, kamen früher oder später in irgendeiner Form wieder. Einfach, weil es sich für sie stimmig anfühlte, und für mich ebenso, und da doch immer etwas von Liebe mitschwang, das nach Ausdruck verlangte, selbst wo (z.B. aufgrund zu großer Entfernung) klar war, dass man sich nicht allzu oft würde sehen können.

Ich habe über all die etablierten und bekannten Formen von Beziehungen einiges lernen dürfen und anerkenne durchaus ihren Nutzen als Übergangs-Form, aber auf Dauer erlebe ich es als absurd, eine Beziehung in irgendeiner vordefinierten Form zu leben und nicht in stimmigem Kontakt. Nur in letzterem kann ich letztendlich jeweils die stimmigen Formen des Miteinanders finden, die mir und dem jeweils anderen tatsächlich entsprechen.

Die Falle der Form im Lernen allgemein

Schlussendlich möchte ich noch von einem Gespräch erzählen, das ich unlängst mit einem guten Freund führte, in dem er meinte, ihn würden „studierte Leute“ manchmal ziemlich nerven, weil sie oft so redeten wie die Bücher, die diese gelesen hatten: „Da kann ich mir gleich das Buch kaufen und es selber lesen“

Was mich zu einem weiteren relevanten Zusammenhang in Bezug auf Formen führt: wenn sich die Form verselbstständigt, zum Selbstzweck wird, und über den stimmigen Kontakt gestellt wird – was ist dann noch mein persönlicher, individueller Mehrwert? Suche ich als Mann „eine Beziehung“ mit einer Frau, ist die Frau damit gewissermaßen das Mittel Frau zum Zweck Beziehung? Oder gehe ich stattdessen in stimmigen Kontakt mit einem anderen Menschen, und finde gemeinsam die jeweils passende Form für diese Kontakt, während ich die etablierten Formen – wenn überhaupt – nur übergangsweise nutze, um meine inneren Blockaden zu überwinden? Lese ich ein Buch, lerne ich von jemandem, um meine eigene innere Bewegungsfreiheit zu steigern, oder tue ich es, um zu einem “anerkannten” Vertreter der Lehre eines Anderen zu werden?

Oder bezogen auf den bunterrichten-Titelzusatz „Menschen helfen aufzublühen“: Nutze ich das Außen, um in der Überwindung des Außens mein Innerstes zum Vorschein zu bringen? Oder baue ich mir im Grunde nur selbst Beschränkungen auf, weil ich noch nicht nicht den Mut gefunden habe, meinem eigenen inneren Kompass zu vertrauen?

Niklas

P.S. einige Ankündigungen:

  • Morgen, 4.7., 20:00 halte ich im AberJa in Wien einen Vortrag: “Wer macht hier wen fertig?” – Familien- und Rechts-Systeme über die systemischen Ursachen von Mobbing und totalitären Systemen. Mehr dazu (und zu anderen Vorträgen/Workshops) hier…
  • Auf mehrfache Anfrage ist seit einigen Tagen das Forum wieder online, aber fühlt sich viel zu wenig beachtet. Schenkt dem doch mal etwas Aufmerksamkeit und füttert es mit interessanten Themen, es freut sich darüber 😉

„Das ist total übergriffig, was du da machst“, stand in der Nachricht zu lesen, die ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Was hatte er angeblich gemacht? „Energien gelenkt“? Gar auf „rücksichtslose“ Art und Weise? Er war sich gar nicht sicher gewesen, ob es so etwas wie unsichtbare Energien überhaupt gab, und nun sollte er auf diesem ungewissen Feld gar zum Bösewicht, zum Täter geworden sein?

Und doch, in den letzten Monaten und Jahren hatte er immer wieder festgestellt, dass es etwas zu geben schien, dass ihn zuweilen zu lenken vermochte, das seine Schritte, seine Aufmerksamkeit anzog, ansog in bestimmte Richtungen, bestimmte Bachläufe, Ströme des Seins. Es war eine Art von.. Sicherheit gewesen, ein unerklärliches Wissen der eigenen Unüberwindbarkeit im Verfolgen jener Wege. Der Fluss des Wassers mochte versickern, gestaut werden, Umwege verfolgen, doch die Schwerkraft ließ ihn mit der Zeit alles überwinden, jeden Widerstand wegwaschen, solange der Kontakt zur Quelle stetig neue Wasser brachte. Es war immer richtig gewesen, jenen Ahnungen zu folgen. Und nun dieser Vorwurf, der seine bisherigen Erfahrungen so dermaßen in Frage stellte.

Er war sich so sicher gewesen, in ihren Augen, ihren Bewegungen, ihrem ganzen Sein dieses Verlangen nach seinen Wassern spüren zu können, zarte Pflänzchen, Vorboten wunderbaren Wachstums. War er damals, an jenem verhängnisvollen Tag, etwa übergeschwappt aus den förderlichen Bahnen? Hatte er es an Geduld fehlen lassen, den oft so quälend langsamen Prozess abzuwarten, hatte er die zarten ersten Triebe ersäuft, weggeschwemmt mit seiner Ungeduld? War es ihm wirklich vorzuwerfen, noch kein erfahrener Gärtner der Seele zu sein, zudem er sich in einem für das Auge unsichtbarem Feld bewegte?

In seiner Verzweiflung war es ein leichtes gewesen, sich selbst von jeder Schuld freizusprechen. Was bildete sie sich überhaupt ein, ihn für ein Verbrechen auf einem Feld verurteilen zu wollen, das möglicherweise nicht einmal real existierte? Wollte er sich wirklich in Gefilde begeben, die ihm so völlig unbekannt und unkontrollierbar erschienen, dass er nicht mehr sicher war, seinen eigenen Urteilen vertrauen zu können? Warum die Episode nicht einfach als Fehler, als Irrung abschreiben, als verbrannte Erde? Sein Leben würde weitergehen. Ihr Leben würde weitergehen. Mit anderen Augen betrachtet war ja im Grunde auch gar nichts zwischen ihnen passiert. Kein Gericht der Welt würde ihn für „stümperhafte Energiearbeit“ verurteilen. Man konnte ja auch darüber lachen.

Und doch war da noch die schwer zu verstummende Stimme des Gewissens, und diese noch schwieriger zu ignorierende, stimmlose Intuition. Die ihn hinterfragen ließ, was er an jenem Abend tatsächlich angestellt haben könnte. Und die Antwort war schmerzhaft real: er hatte für einen Moment den Glauben an seine Intuition, an die Quelle seines inneren Stromes verloren und damit die Gelassenheit und Geduld, die ihr gesundes Wachstum von ihm abverlangte. Für einen Moment hatte er wohl Angst verspürt, ihre inneren Blockaden niemals überwinden zu können, und aus eigener Kraft versucht, den Prozess zu beschleunigen. Kein Wunder, dass sie sich zurückgezogen hatte. Sein Strom war versiegt, sobald er versucht hatte, zu kontrollieren und zu lenken, was ihn zu leiten bestimmt war.

Es war ein furchterregender, unsicherer Weg, der sich ihm da aufzeigte, ein Tasten im Dunkeln, ein Weg, der Vertrauen, der Glauben von ihm forderte. Ein schmerzhafter, schwer planbarer, oft so fürchterlich einsamer Weg des Wachsens, Lernens und Entwickelns. Ja, es gab die sicheren Varianten er erprobten und vielmals begangenen Wege, die Möglichkeit der Nachfolge, und wie sehr wünschte er sich oftmals, dass dieser Weg ihm offenstände. Doch sein Weg war ein anderer. Immerhin so viel hatte er mittlerweile verstanden.

Auch sie würde wachsen, würde ihrer Intuition folgen, würde wieder vertrauen, wieder glauben können an die Reinheit seiner Wasser, sobald er ihren Schmerz, ihre Verletzung, seine Grenzüberschreitung als solche bekannt, anerkannt hatte. Ihre Reaktion war extrem gewesen, im Nachhinein betrachtet auch übertrieben vielleicht, aber im Moment notwendig. Die Zeit würde das Übrige tun, ihren Glauben aneinander erneut zu stärken. Gelassenheit. Geduld. Vertrauen. Die Seele war ein Raum der unsichtbaren Entwicklung, ein Raum des Glaubens, der Hoffnung.

Tage-, Wochenlang war nichts geschehen, und er hatte die Hoffnung beinahe aufgegeben. Doch nun endlich sprießten die ersten kleinen Tomatenpflänzchen auf seinem Fensterbrett, und er freute sich täglich aufs Neue über ihre ungestüme Lebensfreude.

Er mochte nicht als Gärtner geboren oder geschult worden sein. Aber er würde lernen.

Ich habe deine Meinung angehört.
Ich habe deine Bücher gelesen.
Dann habe ich darüber nachgedacht.

Ich habe mich an neuen Erkenntnissen erfreut.
Ich habe über alte Wahrheiten gelächelt.
Dann habe ich Ehrfurcht erfahren
Vor der Anmut und Unendlichkeit des Lebens.

Doch deinen Glauben anzunehmen
Dafür erschien es mir noch zu früh
Ich hoffe, du verzeihst –
Wir leben noch.

 

Ich habe deinen Körper berührt.
Ich habe die Süße deiner Lippen gekostet
Dann war ich voller Glück.

Ich habe deine Formen nachvollzogen.
Ich habe deinen Splitter des Immerwährenden erkannt.
Meine Seele dehnte sich, bis sie auf die deine traf
Und für einen Moment waren wir zuhause

Doch deine Angst und Heilmittel anzunehmen
Ward mir in meiner Seele verboten
Ich hoffe, du verzeihst –
Wir leben noch

 

Ich bin stundenlang durchs nasse Gras gelaufen.
Ich habe zwei Tage im Bett verbracht.
Dann habe ich mich wieder gespürt.

Ich habe mich an deinem Lächeln erfreut
Ich habe das Glück der Welt in Händen gehalten
Es umgedreht, und sodann, beschwert vom Unglück
War für einen Moment ein stabiler Mittelpunkt zu finden

Doch zu verweilen an jenem Punkt der Stille
Mehr als einen Augenblick…
Ich hoffe, du verzeihst –
Wir leben noch.

 

Ich habe Jahre nach dir gesucht.
Ich habe dich jahrelang gefunden
Bis ich dich endlich erkennen konnte.

Ich habe mir so lange die Seele aus dem Leib gesungen
In der schallgeschützten Kammer meines Körpers
Du hast ihm die wahrhaftigen Töne entlockt
Und sie mit den deinen veredelt.

Froh locken, laden wir nun also die Welt zum Fest der tanzenden Seelen.
Verängstigt droht sie uns mit dem Unglück, das man gegen uns führen könnte.

Doch so sehr sie sich mühen, die Hüllen zu verletzen
Das Wahre kommt nur umso rascher ans Licht
Wir hoffen, sie können verzeihen –
Wir leben noch

 

Und wenn der Tag kommen wird
An dem die Endlichkeit in mein Leben tritt
Werde ich ihr gegenübertreten können.

Sie wird mit mir sprechen wollen.
Sagen, Aus! Nun ist es zu Ende!
Fragen, Hast du denn wahrhaftig gelebt?

Dann werden wir ihr sagen können: Ja!
Wir haben das Unverzeihliche gewagt:
Wir haben wahrhaftig gelebt.

Zu Tausenden bevölkerten sie nun die Stadt, zu Tausenden waren sie nun in Bewegung – waren sie eine Bewegung, mit fast politisch greifbarer Macht, hätten sie ein Programm oder auch nur ein weiterführendes Ziel gehabt. Die lebenden Toten waren wieder in der Stadt.

Es wäre wohl eine politische Macht geworden, wäre es tatsächlich eine Bewegung gewesen. Aber ein aufmerksamer Beobachter konnte rasch erkennen, dass sie verschiedene Ziele an-, verschiedenen Zielen zustrebten. Der Ort mochte sich unterscheiden, doch der Name variierte nur unwesentlich: irgendeine Kombination aus „Halloween“ und „Party“ war es am Ende ja doch meistens. Die importierte Möglichkeit, einen Tag vor dem Gedenken der Toten noch die Untoten zu feiern, von vielen vor Jahren noch belächelt, hatte sich rasch etabliert. So rasch und vollkommen, dass aus dem Angebot zunehmend ein gewisser Zwang geworden war. „Und, was machst du an Halloween?“, ehemals mit einem Schmunzeln über das amerikanische Mitläufertum versetzt, war zum wirksamen Mittel geworden, die Uneingeweihten bloßzustellen.

Wie jeder Eingeweihte wusste – und die Masse stellte auf ihre Art schon sicher, dass die Minderheit der Uneingeweihten sich stetig verkleinerte – gab es verschiedene Abstufungen des Prestiges: der Königsweg war es, zu einer privaten Feier eingeladen zu werden – oder gar Gastgeber einer zu sein. Wer nicht zu den Glücklichen gehörte, musste mit den öffentlichen Varianten Vorlieb nehmen. Glücklicherweise gab es auch hier die Möglichkeit, mittels unterschiedlicher Eintrittspreise zu im Grunde gleichen Vergnügungen seinen Rang auszudrücken.

Nun war auch sie zu einer jener privaten Feiern eingeladen worden. Es war Bedingung gewesen, sich zu verkleiden, und die ihre war erstaunlich gut geworden. Dort angekommen, fügte sie sich den üblichen Ritualen solcher Feiern: dem Alkohol, der in Strömen floss, dem immer gleichen Rhythmus der Musik, der ihrem Körper kaum mehr als dem ewig gleichen Bewegungsradius von Vor und Zurück, Rauf und Runter erlaubte. Die Mutigen wackelten noch ein wenig mit dem Hintern, während die Männer mit dem Fortschreiten der Zeit immer drängender in ihren Avancen wurden. Aber dem Geist die körperliche Grundlage und dem Körper damit seiner Kontrolle zu entziehen war ja von jeher das erklärte Endziel einer jeden guten Feier im Geiste der Zeit gewesen. Warum nicht? Es gab ja Kondome, um Schlimmeres zu verhindern.

Wer waren diese Menschen, und fühlten sie sich wohl hinter ihren fantasievollen Masken und Rollen?, dachte sie in jenem umnebelten Moment, als das ewige monotone Wackeln der immer gleichen Körperteile einen leichten Schwindel in ihr ausgelöst hatte und sie sich erschöpft an die Wand lehnte. Welche Art von Ekstase war dies, die sie nicht einander näher brachte, sondern nur ihren Rollen? Alle standen sie irgendwie herum, mit diesem schwerlich unterdrücken Ausdruck von Langeweile, bewegten ihre Körper, wie es die Mode diktierte, plauderten vor sich hin und in der Enge des gemeinsamen Raumes doch aneinander vorbei.

Und an was würden sie sich erinnern können, wenn die lebenden Toten am nächsten Morgen zu den nahtoten Lebenden geworden waren? Sie waren dabei gewesen. Wenn jemand fragen würde, was man an Halloween unternommen hatte, würden sie sagen können, sie waren bei dieser oder jener privaten Feier gewesen, wohl wissend um die Macht der Scham über die eigene Unwissenheit bezüglich der durchzechten Stunden, die sie alle verband und die dafür sorgen würde, dass niemand ausplauderte, was unaussprechlich schien. Schließlich war es ja eine private Feier gewesen, bei der man unter sich blieb und auch bleiben wollte. Bei der man den Austausch von Körperflüssigkeiten jenen von Gedanken oder gar Gefühlen vorzog, wie es sich für junge Menschen gehörte, die mit der Zeit zu gehen wussten.

Tags darauf war der Spuk wieder vorbei, noch ein paar Tage später auch das letzte unglückselige Produkt jener Nächte mit Hilfe der entsprechenden Pillen für den gewissen Notfall aus der Welt geschafft. Einmal im Jahr verrückt sein, das konnte man sich ja mal leisten. Was sollte schon passieren?

Nur dunkel erinnerte sie sich an die mit Kunstblut überströmte Fratze des Zombies, mit dem sie in jener Nacht geschlafen hatte. Erst einige Wochen später, als sie mit Schrecken feststellte, dass ihre Periode ausgesetzt hatte, fiel ihr ein, dass ihr ihre Freundinnen lachend erzählt hatten, sie hätte pausenlos gekotzt. Die Pille wirkt nicht zuverlässig bei Erbrechen war auf der Packung gestanden. Und obwohl ihr Kopf noch Ausflüchte suchte, wusste ihr Körper doch, dass es stimmte. Scheiße, ich bin schwanger! Wie war sein Name noch gewesen? Doch niemand konnte sich an einen blutverschmierten Zombie erinnern. Ob sie ihn nicht mit dem Skelett verwechselte? Und ihr wurde bewusst, dass sie kaum mehr etwas wusste von jener Nacht. War es zumindest schön gewesen mit ihm? Hatte es sich zumindest ausgezahlt? Das dunkle Loch in ihrer Erinnerung wurde größer, weitete sich, schien sie verschlingen zu wollen. Aber ich wollte doch nur auch einmal Spaß haben…

So, zum 75er-Jubiläum der Barfuß-Geschichten mal ein Versuch, eine Erotik-Geschichte zu schreiben. Ist ganz schön schwierig irgendwie.

Als er an der Bar eintraf, fand er sie nicht sofort. Das Gelände war größer, als er erwartet hatte. Aber nach der langen Fahrt kam es ihm auch nicht ungelegen, einen Moment der Besinnung für sich zu haben. Bestellte sich ein Bier, was er selten tat, und sah sich im Raum um. Es dürfte sich um eine jener Bars handeln, in der sich Studenten beider Geschlechter gerne trafen, um neben Gedanken später auch Körperflüssigkeiten auszutauschen. An Alkohol wurde nicht gespart, und die Bass-lastige Musik sowie das schummrige Licht mit den vielen Möglichkeiten, sich zurückzuziehen, sorgten für den Rest. Es würde nicht einfach sein, sie hier zu finden.

Langsam, sein Bier in der Hand, schritt er durch das Lokal, die anderen Gäste beobachtend. Einige junge Frauen schenkten ihm verschüchterte Blicke, und er erwiderte ihr Lächeln, ließ sich aber nicht auf ein Gespräch ein. Die Atmosphäre des Ortes verlieh seinem Verlangen, sie wiederzusehen, sie wieder zu berühren, eine Intensität, die ihn erregte. Anja… Er schloss die Augen, sah seine Hände vor seinem inneren Auge sanft ihren warmen Körper liebkosen, sah, wie ihr Körper unter seiner zärtlichen Berührung zusammenzucken würde – und spürte mit einem Mal, wo er sie finden würde. Mit freudiger Erregung beschleunigte er seine Schritte und erkannte sie tatsächlich in einem der dunkleren Winkel der Bar sitzend, offenbar mit einer anderen Frau ins Gespräch vertieft. Er hielt inne, als er an ihren Gesichtszügen sah, dass es sich keineswegs nur um ein Gespräch handelte.

Sie zuckte erschrocken zurück, als sie ihn bemerkte, doch er lächelte sie mit einer Mischung aus Verlegenheit und Erregung an. „Ich will euch eigentlich nicht stören.“, sagte er. In einem Anflug von Übermut nahm er die Hand der Frau und legte sie zurück an die Brust seiner Freundin. „Und kommt gar nicht auf die Idee, euch jetzt für irgendetwas zu schämen, oder aufzuhören mit dem, was euch Freude bereitet, nur weil ich da bin.“ Mit einem Grinsen, das wohl ziemlich dämlich aussehen musste, setzte er hinzu: „Vor allem nicht jetzt, wo ich da bin.“
Seine Freundin setzte sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr: „Ich will mit dir schlafen. Jetzt.“
„Hier? Und was ist mit deiner Bekannten hier? Willst du die Arme einfach alleine lassen?“
„Camilla? Du meinst -? Wie stellst du dir das vor?“
Sein Grinsen dürfte an Dämlichkeit wohl kaum zu überbieten gewesen sein. Zum Glück war es dunkel.
„Ich hole das Auto. In zehn Minuten kommst du raus, ich hol dich ab und wir fahren irgendwo raus aus der Stadt. Kannst ja deine Bekannte fragen, ob sie mitmöchte.“
Bevor sie etwas erwidern konnte, war er schon aufgesprungen, um das Auto zu holen. Seine Erektion musste meilenweit zu sehen sein. Er dankte dem Besitzer der Bar im Stillen für diese Dunkelheit hier.

Sie waren tatsächlich zu zweit gekommen.
Nach einigen Hundert Metern fasste sie seine Erektion an und begann, ihn mit den Augen zu vernaschen. Zeit, anzuhalten. Zeit, die aufgestaute Spannung fließen zu lassen. Nein. Noch nicht ganz. Er liebte diese Spannung. „Geh schon mal vor!“, raunte er Anja zu, und küsste sie zärtlich ins Ohr.

Camilla erzitterte, als Anja zu ihr zurück kletterte und sie leidenschaftlich küsste. „Komm!“, rief Anja ihn, doch er blieb am Fahrersitz sitzen, beobachtete ihr Treiben im sanften Mondlicht durch den Rückspiegel. „Komm!“, bat sie ihn erneut, doch nun forderte Camilla ihre Aufmerksamkeit und ihren Körper. Wellen der Lust durchströmten ihn, während er den beiden zusah. Sie ließen sich Zeit, wissend, dass sie die ganze Nacht haben würden. Hier im Nirgendwo, im Schutz der Dunkelheit, war es nicht notwendig, sich zurückzuhalten, eine Fassade zu wahren. Immer schwerer hörte er sie atmen, und mit der Zeit wurde aus dem Atmen ein Keuchen, immer wieder unterbrochen von einem Kichern, dessen logischen Ursprung er nicht ausmachen konnte. Und dann, plötzlich Stille. Der Mond war hinter einigen dichten Wolken verschwunden, und er konnte kaum mehr etwas sehen, aber das Bewusstsein, hier nur eine Armlänge von zwei Frauen zu sitzen, die sich in seinem Auto gegenseitig berührten, erregte ihn maßlos. „Mach die Augen zu“, raunte ihm Anja plötzlich aus kurzer Entfernung in sein linkes Ohr, und er, überrascht von ihrer unerwarteten Nähe, wollte etwas erwidern, doch als ihre sanft saugenden Lippen eine feuchte Wärme an seinen Nacken ausbreiteten, zerflossen alle rationalen Gedanken, die er noch gehabt haben mochte, in einer Welle wohliger Lust. Als er jedoch wenig später auch noch an seiner rechten Seite die feuchte Wärme sanfter Lippen spürte, stockte ihm der Atem. Er musste wohl ziemlich seltsame Geräusche fabriziert haben, denn die beiden kicherten erneut. Doch er hatte nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn nun öffneten die beiden Knopf für Knopf sein Hemd und arbeiteten sich tiefer vor.

Anja musste wohl über den Sitz geklettert sein, denn plötzlich war sie neben ihm, unter ihm, und küsste seinen Penis durch die gespannte Hose hindurch. Er war so erregt, dass es schmerzte. Mit einer raschen Bewegung öffnete er den Gürtel seiner Hose. Frei! Der Schmerz ließ rasch nach, aber das Pochen blieb. War er jemals in seinem Leben so erregt gewesen? Und dann küsste sie seinen Schaft, arbeitete sich in sanftem Wechsel von Saugen und Blasen hoch zur Eichel, nahm ihn ganz in sich auf. Nun keuchte auch sie wieder, sich von seiner Erregung anstecken lassend. Wo war Camilla abgeblieben?

Die Fahrertür öffnete sich, und Camilla begann ebenfalls, seinen Penis zu küssen. Die Lippen, die Zungen der beiden Frauen fanden sich am Ort seiner Lust. Ihn immer wieder neckend ansehend, gaben sich die beiden Frauen ihrer Lust hin, entfernten auch noch die letzten verbliebenen Kleidungsstücke, um sich besser fühlen zu können, um sich noch näher zu sein. Camilla’s Fuß rutschte ab, und sie fiel lachend rücklings ins warme, nasse Gras. Anja folgte ihr, bedeckte ihren Körper mit Küssen, befühlte ihren Körper mit ihrer Lust. Sah zu ihm zurück. Nimm mich, schien ihr Blick zu bedeuten, nimm uns. Und er wollte sie, Gott wusste, er wollte sie. Doch er ließ sich Zeit, wohl wissend, dass die beiden in ihrem Verlangen mittlerweile beinahe wahnsinnig werden mussten.

Camilla öffnete sich ihm wie im Rausch, schien in einer Art Trance versunken zu sein, zuckte unkontrolliert, wenn Anja ihrem Körper weitere Quellen der Lust öffnete. Er bewegte sich kaum in ihr, genoss das Gefühl, in ihr zu schweben, und jenes, mit Anja auf eine Weise verbunden zu sein, die jener Verbundenheit am Ende überlegen war, wohl immer überlegen sein musste. Es waren am Ende doch nur Körper… Als Camilla kam, kam sie still, fast unmerklich. Ihr Körper war zu lange aufs Höchste erregt gewesen, um noch eine merkliche Steigerung zu erreichen. Als er seinen Penis aus ihr herauszog, zuckte sie noch einige Momente weiter, keuchend. Anja lächelte ihn an, wissend, dass er sich das Beste für sie aufgehoben hatte. Sanft liebkoste sie mit ihren Lippen Camilla’s Brüste, die ihrerseits mit ihren Händen die ihren knetete. Mit jeder Bewegung der anderen Frau und jeder Zuckung krümmte sich ihr Becken weiter nach oben, ihm entgegen. Ihn erwartend. Einen Moment lang hielt sie inne, sah ihn über die Schulter hinweg an, lächelte. Ich liebe dich, stand in ihrem Gesicht geschrieben, und er wusste, dass er auch er sie liebte wie kaum etwas auf dieser Welt.

Es war warm in ihr, und feucht, und begehrend, aber da war mehr zu finden in der Tiefe dieses Menschen. Da war Heimat. Da war ein Sich-Gehen-Lassen, eine Möglichkeit, voll und ganz einfach nur zu sein. Waren Momente vergangen? Minuten? Plötzlich zuckte ihr Körper, und sein Körper, oder der ihre, oder etwas noch weit Tieferes, bewegte sich erneut. Für einen Moment fühlte er, wie alle Konzepte von ihm, ihr, der immer noch regungslosen Frau neben ihnen und allem anderen zu verwischen begannen, um eins zu werden, untrennbar verbunden. Doch nur für einen Moment. Dann fühlte er sich wieder in seinen Körper zurückversetzt, fühlte den ihren, der ihn nun unaufhaltsam auf den Höhepunkt zutrieb, ihn umfassend, alles an ihm umfassend. Immer noch entfernt mit der ganzen Welt verbunden, fühlte er ihr Erzittern wie ein Erdbeben, sein Kommen wie die Eruption eines Vulkans. Dann erschlafften ihre Körper, und sie fielen erschöpft nebeneinander ins feuchte Gras. Unser Körper ist nicht dafür geschaffen, so etwas auf Dauer zu fühlen, dachte er mit einer gewissen Traurigkeit. Aber immer wieder, schien ihr verklärter Blick ihm sagen zu wollen. Aber immer wieder. Und er wusste, dass sie Recht hatte.

Er sah zärtlich zu Camilla, die vor Erschöpfung wohl bereits eingeschlafen war und leise schnarchte, und dann zu Anja, die sich erschöpft in seinen Arm geschmiegt hatte: „Bringen wir sie nach Hause. Und dann uns.“

„Ich bin schon zuhause“, flüsterte sie, mit einem Ernst in der Stimme, der ihn tiefer berührte als alles, was ihre Körper gerade vollbracht und erschaffen hatten.

War es genug? Würde es genug sein? Würde es reichen, was sie in all den Jahren an Erfahrung angesammelt hatte, an Sensibilität, die ihr eine seltene Zärtlichkeit verlieh? Und vor allem: für wie lange würde es reichen? Wie lange würde es dauern, bis er herausgefunden hatte, wie es in ihrem Inneren aussah, wie lange, bis er sie durchschaut hatte, ihr auf den Grund gegangen war, mit der Gründlichkeit seines ruhigen Blickes? Und was dann? Würde er nicht, erschrocken von dem, was er in ihr vorfinden würde, zurückschrecken, wie auch er es getan hatte, als die Tür, die sie noch getrennt hatte, sich langsam öffnete? Da war diese Angst in ihr, die ihr Herz zum Rasen bringen vermochte, und nur durch äußerste Anstrengungen war es ihr möglich, Ruhe zu bewahren. Es war nicht gut, wenn er ihre Anspannung bemerkte. Es war noch nicht Zeit. Noch ein wenig genießen. Die Wahrheit war ein hohes Gut. Aber im Krieg und in der Liebe war alles erlaubt. Hoffentlich.

Irgendwo an einem See hatten sie Rast gemacht. Hatten geplaudert. Über Sternschnuppen, Gott und die Welt im Allgemeinen. Weitergeredet, während sie ihr Nachtlager aufschlugen. Er wollte sie, ihre Leere, ihre Tiefe, suchte sie im Dunkel der Nacht. Aber was, wenn er fände, wenn er aufdeckte, was verborgen bleiben musste? Doch ihn abzuweisen hätte Fragen aufgeworfen, Fragen, deren Antworten sie schuldig bleiben musste. Ihm ihren Körper eröffnend, verschloss sie ihm ihr Innerstes. Sie fühlte sich seltsam fern, als würde es nicht ihr Körper sein, der sich auf den seinen senkte. Rasch war es vorbei. Es war zu dunkel, es genau zu erkennen, aber ihr war, als glitzerte eine Träne in seinen Augen. Hatte er nicht gefunden, was er in ihr suchte? Hatte sie nicht gegeben, was von einer Frau zu erwarten war? Was vermeinte er zu suchen, in ihr zu finden, als Leere?

Von ihm ablassend, starrte sie in den Nachthimmel. Wie lange noch würde sie ihm ausweichen können? Wie lange noch das Spiel weiterspielen, dass man „Liebe“ zu nennen pflegte? Wie lange noch, bis er tief genug in sie eingedrungen war, um zu sehen, was das Dunkel der Nacht gnädig verdeckte? Er hatte sich weggedreht, atmete langsam. Vielleicht schlief er bereits. Zärtlich streichelte sie seine Schulter. Wusste er, was sie zu geben vermochte? Wusste er, warum die Tür zu ihrem innersten Innern ihm verschlossen bleiben würde, verschlossen bleiben musste? Ein Zucken durchzog ihre Hand, ging durch ihren Oberarm und ihre Schulter, ihren ganzen Körper. Er war wach. Drehte sich zu ihr um, sah sie an. Und sah. Wusste wohl wenig von den Gründen, aber er erkannte ihre Ängste. War in ihr, tief in ihr, an dem Ort, der anderen zu ihrem eigenen Schutz verboten war. Und blieb. Floh nicht. Sah sich neugierig um, teils bewundernd, teils verwundert.

Es war überflüssig, etwas erklären zu wollen – und doch tat sie es. Erzählte ihm eine Geschichte. Vom Bau dieser heiligen Hallen, von den Blumen, mit denen sie sie geschmückt hatte, und von den Frevlern, die sie verwüstet hatten. Von der Entscheidung, die Ruinen vor den Grabräubern zu beschützen, indem sie von allen Landkarten gelöscht wurden. Und der Angst, ohne diesen Prachtbau nur noch wenig zu gelten.

„Was ist diese Ruine hier wohl noch wert?“, meinte sie zu ihm.
„Was würdest du schätzen?“, fragte er zurück.
„Schau dich mal um! Nur noch halb zerfallene Steine, alles längst überwachsen.“
„Aber was würdest du schätzen? Was ist es noch wert? Was bist du noch wert?“
Etwas an seinem Tonfall sagte ihr, dass er es nicht abwertend meinte. Trotzdem fühlte sie sich verletzt.
„Naja, die Landschaft ist ganz schön hier…“
„Und?“
„Man könnte aus den ganzen Steinen vielleicht etwas Schönes bauen.“
„Was würdest du also schätzen, dass das Ganze hier wert ist?“
„Naja, das kommt darauf an, was man eben daraus macht.“

Etwas ließ sie aus ihrer inneren Welt erwachen, und sie sah in seinen Augen, dass sie nicht geträumt hatte. Er war mit ihr an jenem Ort gewesen, der allen verboten war. Und hatte ihr einen Schlüssel geschenkt. Was war sie wohl wert? Was man eben daraus machte. Sinnlos, sich verstecken zu wollen. Die wunderschöne Landschaft in ihr selbst eröffnete ihr tausendfache Möglichkeiten. Würde jemand bei ihr bleiben wollen, wenn er erst in ihr Innerstes vorgedrungen war? Würde dieser Jemand bleiben wollen? Es, sie wertschätzen können? Am Ende würde es egal sein. Es war ihre Heimat, musste ihr gefallen und niemand anderem. Weder ihren Eltern noch ihren Freunden noch ihren Liebhabern. Derzeit sah es noch etwas heruntergekommen aus. Vernachlässigt. Aber das würde sich nun ändern.

Aber würde er nicht das Recht für sich beanspruchen, mitgestalten zu können, wie all die anderen Männer in ihrem Leben? Ich werde hier nur Gast sein, las sie beruhigt in seinem Blick. Ihr Leben lang hatten andere an ihren Heiligtümern gezerrt, gerüttelt, Tribut gefordert oder sonstwelche Forderungen gestellt. Bis alles in sich zusammengebrochen war. Das Heiligtum. Alles, was heilig, wertvoll erschien. Nun waren sie abgezogen, um an anderem Heiligen zu rütteln. Es werde heil, sprach sie, überrascht über die Autorität in ihrer Stimme. Hier war ihr wahres Zuhause, das es wiederaufzubauen galt. Wieder zu heilen. Wieder zu heiligen. Die Jahre der Verbannung waren vorbei. Dieses Mal würde sie die Grenzen zu wahren wissen.

Sei mir willkommen, lud sie ihn nun ein, erfreut über sein Dasein. Sei mein Gast.

So fühlte es sich also an. Er wendete den Kopf nach links und schenkte dem Schlagzeuger ein Lächeln, der mit der Base-Drum durchgegangen war und das Schlagzeug nur dadurch vom Umkippen hatte retten können, indem er mitten im Song aufsprang und das fallende Equipment festhielt. Einige verwirrte Gesichter im Publikum, dann schallendes Gelächter, als der Schlagzeuger einige Schritte nach vorne gegangen war und sich vor dem tobenden Publikum verbeugt hatte. Ein Ausrutscher, nur menschlich. Und doch, auf dieser Bühne, in diesen grellen Lichtern, waren sie fern von menschlich, waren Über-Menschen. Götter. Ein jeder Fehler wurde zur Kunst, sobald man nur auf genügend großen Bühnen spielte.

In einem Anflug von Tollkühnheit schlich er sich von hinten an den sich immer noch frenetisch verbeugenden Schlagzeuger an und gab dem Nichtsahnenden einen Schubs, der ihn ins Publikum stürzen ließ, das ihn johlend auf ihren Händen weitertrug, bis er wieder die Bühne erreichte. „Wo waren wir?“, rief er ins Mikrophon, gefolgt vom klickenden Geräusch des einzählenden Schlagzeugers. Spät wurde ihm bewusst, dass er in all dem Jux den Text vergessen hatte, doch das Publikum schien es nicht weiter zu stören. „Instrumentalversion!“ rief er ins Mikrophon, doch die Fans grölten den Text ohnehin mit, feierten sich selbst. So fühlte es sich also an, auf diesen großen Bühnen zu stehen, angehimmelt, unfehlbar, beinahe gottgleich.

Jahrelang hatten sie auf diesen Moment hingearbeitet, diese paar Minuten an Ruhm, für die sie Jahre geopfert hatten, Jahre in feuchtkalten Kellern, mit viel zu lauten Verstärkern, viel zu verrauchten kleinen Bars und viel zu wenigen Fans, die sich für sie interessierten. „Geht arbeiten!“, hatten die Familien gezetert, im Falle des Schlagzeugers auch seine Frau und seine kleine Tochter. Ex-Frau, erinnerte er sich, denn als der große Durchbruch kam, hatten die Bandmitglieder zwar Geld gehabt, aber noch weniger Zeit als je zuvor. Auftritte waren zu lukrieren, Verträge auszuhandeln und Alben aufzunehmen. Irgendwann war sie einfach weg gewesen, wann, das wusste niemand so genau, weil sie viel zu sehr mit ihrer Tour beschäftigt gewesen waren. Frauen gab es jedoch ohnehin wie Sand am Meer in dieser Welt der gleißenden Lichter, ein endloser Strom an Körpern, die auf dem Heimweg in dunklen Hinterzimmern lauerten.

Und nun wurde ihm bewusst, dass es möglicherweise kein Zurück mehr gab aus all diesem Zirkus, dass alles, was er fortan tun oder unterlassen würde, von Tausenden Menschen weltweit über soziale Netzwerke geteilt und analysiert werden würde, bis sie aus jedem hirnverbrannten Kommentar die mystische Weisheit eines Propheten gemacht hatten. Er deutete der Band, weiterzuspielen, gab der Security einen Wink, sich keine Sorgen zu machen, und holte eine hübsche Frau auf die Bühne, die – von den gleißenden Lichtern und der Welle der Anbetung, die ihr aus dem Publikum als der von der Band erwählten entgegenschwappte – völlig überwältigt in seine Arme sank. Er konnte einfach alles mit diesen Menschen tun. Alles. Vermutlich hätten die Fans selbst eine Vergewaltigung hier auf der Bühne irgendwie als große Kunst interpretiert. Für einen Moment spielte er tatsächlich mit dem Gedanken. Doch wofür? Sie würde sich ihm auch ohne Gewalt hingeben. Später, in den dunklen Hinterzimmern, backstage. Ein weiterer Körper ohne Gesicht, im Nebel der Zeit.

Die Erkenntnis ließ ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Es widerte ihn plötzlich an, diese Anbetung, die ihnen zuteilwurde, diese großen Augen, die in allem, was er sagte oder tat, eine Offenbarung vermuteten. All die Frauen in all den Hinterzimmern, all die ermüdenden Touren mit dem Band-Bus. Er fühlte sich nur noch müde, wollte schlafen und nicht mehr aufwachen. Die Frau, die er auf die Bühne geholt hatte, hatte sich etwas erholt und sah ihn erwartungsvoll an. Was wollte er von ihr? Was hatte er von all den anderen Frauen gewollt? Was war all der Ruhm, all die Anbetung am Ende des Tages wert? Er stieß die Frau zurück in die wogenden Massen der anbetungsvollen Gesichter.

„Fühlt ihr euch wirklich so leer, dass ihr in mir euren Gott sehen wollt?“, schrie er ins Mikrophon.
Die Band setzte spontan ein, Feuerzeuge wurden gezuckt, Hände ergriffen, und allgemeines Schunkeln setzte ein. Sie hielten es wohl für den Anfang einer neuen Ballade.
Auch eine Antwort, dachte er fassungslos.

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Wie viele Jahre hatte sie unter dem Joch der Männer gelitten, hatte dem einen nachgeweint und war doch kurz darauf dem nächsten in die offenen Arme gelaufen. Die Geschichte lief am Ende ja doch immer gleich ab: er machte ihr schöne Augen, sie zierte sich eine Weile, um ihn zappeln zu lassen, und irgendwann ließ sie ihn doch ran. Manchmal dauerte es Monate, Jahre, manchmal nur eine Nacht, aber irgendwann kam dann doch wieder dieser Augenblick. Der, in dem der Schleier der geistigen Umnachtung sich lüftete und sie wieder diesen leeren Augen gegenübersaß, die ihr nichts mehr zu sagen hatten, die ihr wohl nie etwas zu sagen gehabt hatten. Aber wer belog sich nicht so manches Mal gerne selbst? Wie sonst wollte man in dieser kalten Welt noch ein Stück Wärme finden?

Mit der Zeit war sie besser in diesem ewigen Spiel geworden. Jedes Mal, wenn sie in diese leeren Augen starrte und wusste, dass es wieder einmal an der Zeit war, sich andere, ebenso leere Augen zu suchen, hatte sie weniger Tränen vergossen. Und nun, mit ihren knapp über zwanzig Jahren, war sie erwachsen genug, sich keinen Illusionen mehr hinzugeben. Sie hatte es auf die liebenswürdige Art versucht, auf der harten Tour und all den Nuancen dazwischen, und doch starrten ihr am Ende immer die gleichen Augen entgegen. Sie hatte gelernt, ihnen nicht mehr in diese Augen zu sehen, hatte gelernt, all die kindischen Träume von Liebe und Zuneigung als Märchen zu durchschauen. Mit den Jahren war sie immer unempfindlicher geworden, bis sie eines Tages erkannte, dass sie kaum mehr etwas spüren konnte, dass sie kaum mehr etwas berühren konnte. Die Tränen, die vergossen heute die anderen.

Sie war dem Lauf der Zeit und den Träumen ihrer Ahnen gefolgt, die einst zu träumen wagten, dass eine Frau eines Tages wählen durfte, nicht nur ihre Partner, eine Partei oder einen Beruf, sondern auch, welche Art von Leben sie leben wollte. Sie hatte die Freiheit ausgekostet wie einen köstlichen Wein, ohne zu merken oder ohne sich darum zu kümmern, wie benebelt sie sich zunehmend fühlte. Und während Männer, deren Namen sie sich kaum mehr merken konnte, an ihr vorbeirauschten, stürzte sie sich in das einzige, was sie noch von ihrer inneren Leere ablenken konnte: das Neue. Sie stürzte sich in das nächste Abenteuer, in die Arme des nächsten Mannes, der nächsten Frau, denn auch dies bedeutete eine neue Erfahrung.

Einst hatte sie ihre Familie aufgrund ihrer Engstirnigkeit verhöhnt, nun mied sie von vornherein die Gesellschaft der Menschen, die sie durch ihr Leben daran erinnerten, dass es so etwas wie Beständigkeit und echte Verbundenheit doch geben mochte. Sie war eine freie Frau des 21. Jahrhunderts, eine der ersten echten Weltbürgerinnen, und stolz darauf, überall und nirgends zuhause zu sein. Sie war einem jeden auf Anhieb sympathisch, und nicht selten weinten ihr einige Männer einige Tränen nach, doch dabei und gelegentlichen Vergnügungen blieb es. Als Weltbürgerin hatte sie weder die Zeit noch das Interesse, sich noch an irgendetwas oder irgendjemanden zu binden.

Nur manchmal, in den seltenen Momenten, in denen ihr zu Bewusstsein kam, wie stolz sie einst gewesen war, als sie mit dem Rauchen aufgehört hatte, oder mit wie viel Herzblut sie ihre Freunde abgehalten hatte, tiefer in den Drogensumpf zu versinken, regte sich irgendwo tief in ihr ein leises Unbehagen. Doch als eine freie, unabhängige Weltbürgerin des 21. Jahrhunderts wusste sie natürlich, wie damit umzugehen war. Und für ein paar Stunden leuchteten in ihren Augen wieder der trügerische Schatten der Hoffnung, die einst in ihnen gelodert hatte. Bis endlich die Leere in sie zurückkehrte, die es ihr seit Monaten unmöglich machte, sich selbst im Spiegel zu betrachten.

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